Es ist der 29. Juni 1895, ein heißer Sommernachmittag. In der Frauenbadeanstalt am Ems-Hase-Kanal herrscht Hochbetrieb. Zwanzig bis dreißig Kinder tummeln sich hier. Doch gegen 3 Uhr wird das Becken plötzlich geflutet. Das einbrechende Wasser steigt schnell bedrohlich hoch. Ohne Zeit, sich umzuziehen, fliehen die Kinder ins Freie. Offenbar ist der Kanaldamm gebrochen. Derzeit wird der Kanal zum Dortmund-Ems-Kanal ausgebaut, und bei Lingen ist er besonders hoch aufgedämmt. Sein Wasserspiegel liegt über den städtischen Straßen. Sollte der Damm tatsächlich gebrochen sein, steht Lingen vor einer Katastrophe.
Von den Kindern unterrichtet, beginnt Bürgermeister Meyer umgehend damit, die erste Nothilfe zu organisieren. Er lässt von den Lingener Kaufleuten Säcke requirieren, um einen provisorischen Damm errichten zu können. Außerdem schickt er die Freiwillige Feuerwehr und die Belegschaft des Ausbesserungswerkes an den Unglücksort. Auch die Schüler des Georgianums sollen mit anpacken. Als Meyer selbst am Kanal eintrifft, stößt er auf den Regierungsbaumeister Volk von der Königlichen Kanalbauverwaltung, der die Organisation vor Ort bereits übernommen hat. Die Frage, ob er noch weitere Sandsäcke benötige, bejaht dieser umgehend, und so macht sich Meyer gleich wieder auf den Weg, um Nachschub zu holen.
Das Wasser des hochgelegenen Kanals hatte sich durch die Kanalsohle in den darunterliegenden Düker des Mühlenbaches gedrängt, der nahe der Frauenbadeanstalt unter dem Kanal hindurchfloss. Was als kleiner Rinnsal begann, brach sich schließlich mit aller Macht Bahn. Schließlich gab der ganze Damm auf einer Länge von rund 30 Metern nach, und das zwischen den Schleusen Varloh und Hanekenfähr gestaute Wasser ergoss sich in die Ebene. Glücklicherweise geschah dies nicht, wie anfangs befürchtet, auf der Ostseite Richtung Stadt, sondern auf der Westseite Richtung Ems.
Die Wassermassen fluteten in kürzester Zeit die Kuhweide, selbst jenseits der Lindenstraße wurde das Land geflutet. Die Fabrik Langschmidt ragte wie eine Insel aus dem Hochwasser heraus. Da das Wasser nicht schnell genug abfließen konnte, entstand ein Rückstau, das Wasser wurde durch den gebrochenen Düker auf die andere Kanalseite gedrückt, und so wurden schließlich auch die Badeanstalt und die dortigen Gärten bis hin zum Schlachthof und zur Bleiche unter Wasser gesetzt. Als der Damm brach, geriet außerdem die mit Sand beladene Pünte des Unternehmers Schmidt in den Sog der Strömung. Sie wurde über den gebrochenen Damm rund 200 Meter auf die Kuhweide hinausgezogen, und obwohl mehrmals versucht wurde, den Anker auszuwerfen, stieß sie erst beim Haus des Fabrikanten Narjes auf Grund.
Das Wasser floss schließlich in die Ems ab, und so war die Gefahr für die Stadt gebannt. Nachdem der Wasserspiegel im Kanal durch gezieltes Wasserablassen an verschiedenen Stellen gesenkt worden war, machten sich Kanalarbeiter, Feuerwehrleute, Eisenbahner und Schüler daran, mit Sandsäcken einen halbkreisförmigen Notdamm um den Düker herum zu errichten. Spät am Abend gelang es auch, die verirrte Pünte zu entladen und mit vereinten Kräften durch die Dammöffnung in das Kanalbett zurückzuziehen. Die Bruchöffnung selbst mit Sandsäcken zu schließen gelang indes erst gegen Mitternacht.
Einige Tage später erreichten die ersten Beschwerden den Magistrat. Sie kamen von Gartenpächtern, die durch die Flut ihre Ernte verloren hatten. Kartoffeln, aber auch Bohnen und Erbsen hatten die rund zwölf Stunden unter Wasser gar nicht gut vertragen, und gerade für die ärmere Bevölkerung war das ein schwerer Verlust. Einbußen hatte etwa auch der Transportunternehmer Bockholt zu verkraften. Er war mit mehreren mit Erz beladene Schiffen unterwegs. Doch nach dem Unglück wurde der Kanal für Wochen gesperrt, und damit saß Bockholt in Hanekenfähr fest.
Der Magistrat erstellte ein Schadensregister, das 13 geschädigte Parteien aufführte. Insbesondere die Kuhweide war teilweise durch Schwemmsand belastet. Außerdem wollte die Stadt die Kosten für ihre Hilfsmaßnahmen und die Sandsäcke erstattet haben. Die Königliche Kanalkommission in Münster zahlte schließlich, wenn auch weit weniger als erwartet. Der alte Düker war nicht mehr zu reparieren. Er wurde vollständig abgetragen und durch einen neuen ersetzt.
Quellen und Literatur: