Mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunden durch die Führung der deutschen Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 endete in Europa vor 80 Jahren offiziell der 2. Weltkrieg. Gemäß den Vereinbarungen der Alliierten übernahmen die Siegermächte die oberste Gewalt in Deutschland. Alle Regierungen, Verwaltungen und Behörden in den Ländern, Städten und Gemeinden arbeiteten ausschließlich im Auftrag und unter Kontrolle der Militärregierungen und Besatzungstruppen.
Die von den britischen Truppen für Lingen eingesetzte Militärregierung nahm schon gut einen Monat vor der deutschen Kapitulation die Arbeit auf. Ihr Hauptquartier war das Gebäude der Färberei Ubl am Marktplatz unweit des Stadthauses, dem Sitz der Stadtverwaltung. Zum Bürgermeister wurde am 10. April der Kaufmann Clemens Brackmann ernannt. Im Lauf der Woche erschienen die in das Umland geflohenen Bediensteten der Stadtverwaltung wieder an ihrem Arbeitsplatz. In den Räumen des Stadthauses herrschte ein ziemliches Chaos. Wie sich ein Zeitzeuge erinnerte, lagen die Akten durcheinander auf dem Boden, die Räume mussten erst einmal aufgeräumt und gereinigt werden.
Der Schriftverkehr zwischen der Militärregierung und der Stadtverwaltung wurde überwiegend in englischer Sprache geführt. Deshalb stellte die Militärregierung auf Kosten der Stadtverwaltung mehrere junge Frauen als Dolmetscherinnen ein, z. B. die aus Holthausen stammende H. Neef, deren Mann im Krieg gefallen war, H. Richter aus Münster und als jüngste M. Wenning aus Darme, die bis 1944 das Georgianum besucht hatte. Der Dolmetscher von Bürgermeister Brackmann war der in Koblenz geborene Helmut Kampmann, den es nach seiner Verwundung und Entlassung aus der Wehrmacht in den letzten Kriegsmonaten nach Lingen verschlagen hatte.
Eines der Kernanliegen der Besatzungsmächte war die sog. „Entnazifizierung“ der deutschen Gesellschaft. Das Vorgehen der Militärregierung in Lingen beschränkte sich zunächst auf Einzelmaßnahmen. Führende Parteifunktionäre in öffentlichen Ämtern wurden entlassen, für einige begann auch bereits die Internierungshaft.
Am 25. April veröffentlichte die Militärregierung eine Liste neuer Straßennamen. Fast alle der von den Nationalsozialisten verfügten Umbenennungen von Straßen wurde wieder rückgängig gemacht. Aus dem Adolf-Hitler-Platz wurde wieder der „Markt“, aus der Hindenburgstraße wieder die Große Straße. Erhalten blieb lediglich die Bernd-Rosemeyer-Straße.
Dass nach der Einnahme der Stadt die Macht völlig in die Hände der Militärregierung und der Besatzungstruppen übergegangen war, bekam die Lingener Bevölkerung sehr schnell und in vielfacher Hinsicht zu spüren. Zahlreiche Häuser und Wohnungen, vor allem solche, die nur geringfügig beschädigt waren, wurden beschlagnahmt. Auf Anforderung der Militärregierung mussten die unterschiedlichsten Gegenstände wie Teppiche, Möbel, Radiogeräte, Fahrräder, ja ganze Wohnungseinrichtungen abgegeben werden. Es oblag der Stadtverwaltung, die Requirierungen bis zum gesetzten Termin durchzuführen.
Da im April 1945 in anderen Gebieten des Deutschen Reiches der Krieg noch andauerte und die deutsche Führung noch nicht kapituliert hatte, war in den ersten Wochen nach der Besetzung Lingens der Alltag durch zahlreiche Verordnungen und Verbote stark reglementiert. Verboten war der Besitz von Waffen, Munition und Kriegsgerät, von Sendeanlagen und sogar von Brieftauben. Die Erlasse der Militärregierung wurden der Bevölkerung anfangs durch Flugblätter und Plakate, ab dem 20. April durch ein von der Militärregierung herausgegebenes täglich erscheinendes Nachrichtenblatt mitgeteilt.
Einschneidende Verkehrsbeschränkungen setzten der Bewegungsfreiheit enge Grenzen. Es galten Ausgangssperre und Versammlungsverbot. Auch nach der deutschen Kapitulation blieben die verschiedenen Verbote und Einschränkungen noch längere Zeit in Kraft und wurden erst im Laufe des Sommers allmählich gelockert.
Zu den Verordnungen der Militärregierung gehörte in den ersten Wochen auch ein allgemeiner Arbeitsdienst für die Männer zwischen 18 und 55 Jahren. Diese mussten sich um 8 Uhr morgens vor dem Stadthaus zur Einteilung einfinden. Sie wurden vorrangig bei der Beseitigung des Schutts auf den innerstädtischen Straßen und Gassen eingesetzt, aber auch bei der Verbreiterung der Reichsstraße 213 in Richtung Nordhorn und Haselünne.
Als Packlage für den Untergrund verwendete man zunächst den Bauschutt aus den Ruinengrundstücken. Als dieser nicht reichte, wurden von britischen Kommandos ca. zwanzig der bei den Kämpfen ausgebrannten Häuser mit Räumpanzern eingerissen und die Trümmer zu den Baustellen der Reichsstraße transportiert.
Die starke Zunahme des Verkehrs auf den Straßen in und um Lingen stellte die Bevölkerung Lingens offensichtlich vor große Probleme. Ab April 1945 häuften sich im Stadtgebiet die tödlichen Verkehrsunfälle. Betroffen waren vor allem Kinder und ältere Erwachsene.
Ein anderes schweres Problem war die viele Munition, die vielerorts herumlag oder im Erdreich verborgen war. Immer wieder erlitten Kinder und Erwachsene schwere, zum Teil tödliche Verletzungen und bleibende Behinderungen. Am 17. April wurden in der Östlichen Stadtflur drei Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren von einer explodierenden Mine getötet, als sie im Garten spielten. An weitere Unfälle erinnerte sich eine Zeitzeugin: „Durch Anfassen und Wegwerfen einer Handgranate, die explodierte, bekam der achtjährige Sohn meiner Kusine am 14. April eine geballte Ladung Splitter ins Bein. Hinter unserem Garten am Stadtgraben verlor ein kleiner Junge eine Hand. Er hatte eine Granate mit einem Stein bearbeitet, die dann explodierte.“
Mehrere Monate lang trug Bürgermeister Brackmann alleine die Verantwortung. Anfang August wurde ihm von der Militärregierung ein Gremium von vier Stadträten an die Seite gestellt, die sich bereits vor 1933 politisch betätigt hatten. An deren Stelle trat ab Oktober ein „Gemeindevertretung“ genanntes Kollegium, dessen 25 Mitglieder ebenfalls von der Militärregierung bestimmt wurden.
Quellen und Literatur:
StdA Lingen, Zeitzeugen-Interviews zum Kriegsende 1945, Ordner Nr. 1 und 2. Allg. Slg. Nr. 1027. Fotoserien Nr. 38 u. 134, Fotosammlung Nr. 2007 u. 4009. Standesamtsregister der Stadt Lingen, Verstorbene 1945. Kopien aus den Akten und Tagebüchern der Militärregierung Lingen im Public Record Office in Kew/London, WO 171.
Ludwig Remling (Hg.), Das Kriegsende 1945 im Raum Lingen, Lingen 1996.