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Archivalie – November 2021

Ruth Foster

Ruth Foster wurde als Ruth Heilbronn am 14. November 1921 in Lingen geboren. Ihre Eltern waren der aus Lengerich stammende Viehhändler Wilhelm Heilbronn und seine Frau Caroline, eine geborene Grünberg. Die Familie wohnte in der Kaiserstraße 1, direkt gegenüber dem Gefängnis. Wenn dort ein jüdischer Gefangener einsaß, versorgte ihn die Mutter mit koscherem Essen. Der Vater geriet 1933 in Konflikt mit einem SA-Mann und wurde kurzzeitig in Schutzhaft genommen. Die Tochter besuchte derweil die Höhere Töchterschule. Später erinnerte sie sich:

„Ich mußte in der Klasse immer ganz hinten sitzen. Vor mir war eine leere Bankreihe, die mich von den sogenannten arischen Schülern trennte. Bei so manchen Lehrern konnte ich mich melden, sooft ich wollte, sie nahmen mich einfach nicht dran. Einmal im Fach ‚Rassenkunde‘, als die Lehrerin die angeblichen Merkmale der jüdischen Rasse beschrieb, meldete sich eine Mitschülerin und sagte: ‚Aber Ruth Heilbronn hat doch gar keine krausen Haare und keine krumme Nase, und klein und dick ist sie auch nicht.‘ Da hat die Lehrerin schnell das Thema gewechselt. Am liebsten war mir Fräulein Sommer. Die hat mich immer drangenommen und sich nach der Unterrichtsstunde mit mir unterhalten. Am schlimmsten war es auf dem Schulhof. Ich mußte mich in einer bestimmten Ecke aufhalten und durfte nicht mit meinen Mitschülerinnen spielen.“

Am Morgen nach der Reichspogromnacht wurden in Lingen 19 jüdische Männer und Frauen festgenommen. Wilhelm Heilbronn verwies auf seine Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg und bedang sich aus, in einigem Abstand und auf der anderen Straßenseite zur Polizeiwache zu gehen. Caroline wurde bald wieder freigelassen, Wilhelm aber und fünf andere Männer verbrachten Wochen, teils Monate im KZ Buchenwald. Ruth hielt sich damals nicht in Lingen auf. „1938, als mein Vater nach Buchenwald verschleppt wurde, war ich in Berlin. Ich besuchte eine jüdische Schule, machte dort mein Einjähriges und lernte dann Krankenschwester und Kindergärtnerin.“

Caroline bemühte sich um die Auswanderung der Familie, doch blieb sie erfolglos. 1941 musste das Ehepaar in das sogenannte „Judenhaus“ in der Marienstraße umziehen. Ruth war immer noch in Berlin. „Am 9. Dezember 1941 bekam ich ein Telegramm von meinen Eltern, dass sie nach dem Osten deportiert wurden. Man musste damals als Jude – wir trugen zu der Zeit schon den Judenstern und hatten auch schon die separaten Lebensmittelkarten mit einem ‚J‘ – eine Erlaubns einholen, wenn man an einen anderen Ort gehen wollte, denn man konnte sich nicht frei bewegen. Ich holte mir also die Erlaubnis und kam dann von Berlin nach Lingen zurück. Die Bahnreise war nicht sehr angenehm. Juden mußten in einem separaten Abteil sitzen.“

Es war die erste Deportation aus Lingen. Neben Ruths Eltern waren auch andere Bewohner des „Judenhauses“ betroffen. Ruth entschloss sich, ihre Eltern zu begleiten. „Ich habe keinen Deportationsbescheid bekommen und bin freiwillig mit nach Riga gefahren, um bei meinen Eltern zu sein.“ Am 11. Dezember wurden sie zunächst nach Osnabrück gefahren. „Der Polizist Brandt, der uns auf der Fahrt mit dem Bus nach Osnabrück begleiten musste, hat geweint.“ Nach zwei Tagen in einer zur Sammelstelle umfunktionierten Turnhalle bestiegen sie den sogenannten „Bielefelder Transport“, einen Sonderzug, der mit zuletzt über 1000 Personen über Münster, Osnabrück und Bielefeld nach Riga fuhr.

Im Ghetto Riga wurden die arbeitsfähigen Bewohner in Arbeitskolonnen eingeteilt. Ruth und ihre Mutter arbeiteten im Armeebekleidungsamt. Der Vater Wilhelm musste außerhalb des Ghettos bei einer SS-Dienststelle Holz sägen. Im Mai 1942 stieß er dort auf einen Bekannten. „Ein Soldat, der aus der Brockhauser Gegend kam (…), sagte: ‚Wilhelm, was machst du denn hier?‘ Und mein Vater hat nur gesagt: ‚Bring mir Brot!‘ Am nächsten Tag brachte dieser Bauernsohn meinem Vater Brot. Am Abend zurück ins Ghetto. Dort war Kontrolle. Es war verboten, Esswaren mit ins Ghetto zu bringen, und wir haben kaum Verpflegung bekommen. Man findet bei meinem Vater das Stück Brot.“ Bei einem zwölfjährigen Jungen wurden außerdem Kartoffelschalen gefunden, bei einem anderen Mann fand man ein Butterbrot. „Alle drei wurden dann gefesselt ins Ghetto gebracht. Meine Mutter und ich mussten uns in die erste Reihe stellen, und man hat die drei vor unseren Augen erschossen.“

Im Juli 1944 begann die sogenannte Krebsbachaktion, bei der alle, die jünger als 18 oder älter als 30 waren, ermordet wurden. „In dem Gedränge nach der Selektion hatte ich meine Mutter aus den Augen verloren. Ich guckte aus dem Fenster und sah, dass sie unten im Hof unter den Leuten war, die auf den Abtransport warteten. Ich wollte sie nicht allein lassen, rannte die Treppe hinunter, öffnete die Hoftür und versuchte, mich zu den Wartenden zu stellen. Da sah mich Dr. Krebsbach. ‚Was will die Ziege da? Zurück!‘, schrie er. Sofort sprang einer der SS-Leute auf, drängte mich brutal zur Tür zurück und versetzte mir mit dem Gewehrkolben einen derartigen Schlag in den Rücken, dass ich taumelte und vor Schmerzen fast ohnmächtig wurde. Halb von Sinnen erreichte ich den Flur. Schmerz und Verzweiflung überfielen mich. Ich wollte nicht mehr leben.“

Wenig später wurde Ruth Heilbronn infolge der Auflösung des Ghettos zunächst in das KZ Kaiserwald gebracht, dann auf dem Seeweg in das KZ Stutthof bei Danzig. „Viele der schrecklichen Erlebnisse im KZ Stutthof habe ich verdrängt (…): die Schikanen der SS-Bewacherinnen, die ihre Schäferhunde auf uns hetzten, die stundenlangen Appelle, die unzureichende KZ-Kleidung, der ständige Hunger und der Mangel an Waschmöglichkeiten. Aus dem einzigen Waschraum wurde man zumeist mit Schlägen vertrieben, Schläge, deren Narben noch heute sichtbar sind. Hinzu kam ein Gefühl der ständigen Bedrohung. (…) Über dem Lager lag der ekelhafte Geruch des Krematoriums. Wer beim Appell für den Tod bestimmt wurde, kam in die sogenannte ‚Erholungsbaracke‘ und wartete dort auf den abendlichen Transport in die Gaskammer.“

Im Januar 1945 begann die Evakuierung des Lagers Stutthof. Unter den Frauen, die bei eisigen Temperaturen auf offenen Güterwagen nach Westen transportiert wurden, war auch Ruth Heilbronn. Ziel war zunächst das Frauen-KZ Ravensbrück bei Berlin, dann ging es doch wieder ostwärts nach Stolp in Pommern. Dort mussten die Frauen Straßen bauen und Schützengräben ausheben. Als die Front näherrückte, begann der „Todesmarsch“ nach Westen. „Wir sind fast vier Wochen in der Kälte marschiert. Wir marschierten nachts, tagsüber hat man uns in Bauernhöfen untergebracht. Die meisten von uns waren krank: Typhus, Gelbsucht usw. (…) Wir haben kaum etwas zu Essen bekommen. Die nicht mehr weiterkonnten und zurückblieben, wurden am Straßenrand erschossen. Auf den Straßen (…) lagen jüdische Leichen wie gesät.“

Auf einem Bauernhof bei Lauenburg wurden die Frauen am 10. März 1945 von russischen Truppen befreit. „Wir hörten an dem Samstagmittag furchtbares Schießen, und wir gerieten schon in Panik, weil wir dachten, man wird uns erschießen. Aber es kamen dann die Russen. Von den 3000 Häftlingen, die zum Todesmarsch aufgebrochen waren, waren [es] nur noch 300, die von den Russen befreit wurden. Aber inzwischen hatten wir Flecktyphus (…) und daran starben dann noch sehr viele. Als ich befreit wurde, habe ich 40 Kilo gewogen, und ich bin 1,76 m groß.“

Ruth wurde zusammen mit einer Freundin in ein russisches Lazarett nach Bromberg gebracht. Am 12. Juni 1945 verließ sie Bromberg, um nach Lingen zu kommen. Die Reise war schwierig, da alles in Trümmern lag. Um die amerikanische Zone zu erreichen, musste sie bei Dessau-Roßlau durch die Mulde schwimmen. Erst am 20. August erreichte sie nach zehn Wochen Lingen. Bei früheren Nachbarn fand sie Aufnahme. „In Lingen lernte ich auch meinen späteren Mann kennen. Er war Arzt in der polnischen Besatzungsarmee, ebenfalls Jude.“ Mit der Heirat nahm Ruth den Namen Foster an. „Im August 1947 zogen wir nach London.“ Von den 21 aus Lingen deportierten Juden war sie die einzige Überlebende. „Meine Familie wurde fast völlig in der Shoah vernichtet. Meine Eltern und neun von zehn Geschwistern meiner Mutter mit ihren Familien fanden den Tod in den Ghettos und Vernichtungslagern.“

Im September 1984 meldete sich Ruth Foster telefonisch bei der Lingener Stadtverwaltung. Sie sei gerade in Bremen und ihres Wissens die letzte noch lebende Jüdin Lingens. Sofern in Lingen eine Gedenktafel mit den Namen der Holocaustopfer geplant sei, könne sie bei den Recherchen helfen. Die Stadt nahm das Angebot an und begann gemeinsam mit dem Arbeitskreis Judentum-Christentum, der Pax-Christi-Gruppe und dem Stadtarchiv nun ihrerseits mit den Recherchen. Schließlich wurden die noch lebenden ehemaligen jüdischen Mitbürger nach Lingen eingeladen und ein Jahr später für die ermordeten jüdischen Mitbürger ein Gedenkstein aufgestellt. Auch Ruth Foster nahm an beiden Veranstaltungen teil. Außerdem gelang es ihr, Bernard Grünberg ausfindig zu machen, der nach der Reichspogromnacht mit einem Kindertransport nach England entkommen konnte. Der ehemaligen Jüdischen Schule, die 1998 als Gedenkort eingeweiht wurde, überließ sie ihr KZ-Kleid zur Ausstellung. 1993 erhielt sie zusammen mit Bernard Grünberg die Ehrenbürgerschaft der Stadt Lingen. Ruth Foster starb am 5. August 2014 in London. Sie hinterließ eine Tochter und Enkelkinder. In diesen Tagen wäre sie 100 Jahre alt geworden.

Quellen und Literatur

  • StadtA LIN, Albenslg., Nr. 33.

  • StadtA LIN, Allg. Slg., Nr. 1187.

  • StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 8.

  • StadtA LIN, Lingener Volksbote vom 16.11.1921.

  • Scherger, Gertrud Anne: Der Jüdische Friedhof in Lingen. Eine Dokumentation. Beitrag zur Geschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 2009.

  • Scherger, Gertrud Anne: Stolpersteine. Ein Wegweiser zu den Stolpersteinen für die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger der Stadt Lingen (Ems). Ein Standtrundgang, Lingen 32019.

  • Scherger, Gertrud Anne: Verfolgt und ermordet. Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation, im Ghetto und in den Konzentrationslagern. Beitrag zur Verfolgungsgeschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 1998.

  • Vehring, Karl-Heinz: Jüdische Bürger nach dem 2. Weltkrieg in Lingen. Begegnungen und Veranstaltungen, Lingen 2020.

     

     



Artikeldatum: 2. November 2021
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen