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Archivalie – September 2020

Die verschwundenen Grabsteine - Teil 2

Die Gastwirtschaft Raberg um 1920 mit dem Haupthaus (Elisabethstr. 6) und dem rechts anschließenden Nebengebäude (Elisabethstr. 8).

In den 1820er Jahren war es um den Alten Friedhof nicht gut bestellt. Einige Lingener machten aus der Not eine Tugend und verwendeten alte Grabsteine einfach weiter. Baumaterial war teuer und die Gelegenheit günstig. 1821 geriet Pastor Beckhaus in Schwierigkeiten, weil er an den Amtsassessor Mulert einen Grabstein vom Friedhof wegverkauft hatte. Noch im selben Jahr wurde er entlassen, jedoch nicht wegen des Grabsteins, sondern wegen seines Alkoholproblems (vgl. Archivalie des Monats August).

Die Entwendung von Grabsteinen war allerdings kein Einzelfall. Der Kirchenrat beklagte 1821 den „seit einiger Zeit eingenisteten Unfug und Wandel, von dem hiesigen Kirchhof Steine bei Dutzenden von den Grabstätten der Verstorbenen wegzunehmen und dadurch die Ruhestätten der Verstorbenen zu entblößen“. Das Konsistorium möge dem durch Verfügung Einhalt gebieten. Und die entwendeten Steine sollten doch möglichst auf den Friedhof zurückkehren.

Dass zumindest letzteres nicht geklappt hat, zeigt der Fall Hüvett. Durch Heirat gelangte Hermann Hüvett 1794 in den Besitz der Gastwirtschaft „zur Sonne“ in der Burgstraße 15. Dann übernahm sein Sohn Johann Hermann Hüvett die Gastwirtschaft. 1822 ließ er das alte Gebäude abreißen und einen Neubau errichten. Die Nordseite des Hauses kam dabei auf einem Sockel aus Grabplatten zu ruhen.

Die Steine wurden nicht als Ganzes verbaut, sondern in acht passgenaue Teile zerschlagen. Lesbar waren etwa noch die Namen Jan Kuiman, Gesina Hubers und Catharina Elisabetha Dreesman sowie einzelne Jahreszahlen von 1666 bis 1734. Auch dieses Haus wurde inzwischen durch einen Neubau ersetzt. Doch es scheint, als habe sich Johann Hermann Hüvett die Grabsteine etwa zur selben Zeit wie Amtsassessor Mulert vom Alten Friedhof geholt.

Dort wo heute das Neue Rathaus steht, befand sich früher die Posthalterei Raberg (Elisabethstraße 6/8). Tatsächlich waren es zwei Gebäude. An das giebelständige Hauptwohnhaus von 1655 schloss sich rechts ein traufständiger Fachwerkbau an, der nach hinten hin um einen Stallanbau erweitert wurde. Die Grundmauern dieses Stalls bestanden zum Teil aus zurechtgeschlagenen Inschriftensteinen. Es waren drei hochformatige Grabsteinfragmente und eine in vier querformatige Teile gebrochene Gedenktafel.

Die Gedenktafel, so geht zumindest indirekt aus der Inschrift hervor, hatte Henricus Pontanus am 26. Oktober 1685 für seinen Amtsvorgänger und Kollegen, den Prediger Gisbertus Steenbergen, aufstellen lassen, der am 30. September 1684 verstorben war. Wann der Stall gebaut wurde, ist nicht bekannt, doch ließe sich vermuten, dass auch diese Steine um 1820 vom Friedhof geholt wurden. Bauherr wäre demnach der Posthalter Johann Friedrich Raberg gewesen.

Johann Friedrich Raberg saß zugleich als Diakon im Kirchenrat. Entsprechend war er auch 1821 bei der Anhörung von Pastor Beckhaus anwesend. Ob Raberg dabei Zeichen einer ungewöhnlichen Nervosität gezeigt hat, ist im Protokoll leider nicht vermerkt. Rabergs Gebäude jedenfalls wurden im Vorfeld des Rathausneubaus von 1966 abgerissen und die Steintafeln zunächst auf den Bauhof gebracht. 1967 dann wurden sie in die Mauer am Pulverturm integriert.

Am nördlichen Eingangsportal des Justizparks findet sich ein ähnlicher Stein, allerdings mit nur einer, heute kaum noch lesbaren Schriftzeile.

Und noch ein Fall ist belegt. Im Oktober 1820 verfügte die königliche Regierung Osnabrück, dass alle Untertanen binnen vier Monaten ihre Brunnen mit einem festen Geländer oder einer sonstigen Einfassung zu versehen haben. So sollten Unfälle vermieden werden. Möglicherweise war dies der Anlass dafür, dass der Brunnen der Schlachterstraße 22 (des heutigen „Hexenhauses“) umgestaltet wurde.

Die Brüstung des Brunnens wurde abgetragen und der Brunnenschaft mit einer Sandsteinplatte abgedeckt. Nur war es nicht irgendein Sandstein, sondern das Fragment einer alten Grabplatte. In den 1820er Jahren wohnte in der Schlachterstraße 22 ein gewisser Michael Verhael. Er war ein einfacher Tagelöhner. Und die Wiederverwendung der Grabplatte war zweifellos eine kostensparende Lösung.

Das Phänomen, Grabplatten des Alten Friedhofs zweckzuentfremden, scheint sich auf die frühen 1820er Jahre beschränkt zu haben. Bis auf dem Friedhof wieder Ordnung einkehrte, dauerte es jedoch noch einige Zeit.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 3252.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 2778.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Tagespost, Pfingsten 1967.
  • Crabus, Mirko/ Meyers, Jörn: Die Burgstraße in Lingen. Ihre Baugeschichte und ihre Bewohner (Teil 2), in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 66 (2020), S. 171-216.
  • Eiynck, Andreas: Stadtbild im Wandel. Lingener Häuser erzählen Geschichten, in: Kivelingszeitung 2011, S. 172-181.
  • Pawlowski, Hilde: Die Posthalterfamilie Raberg zu Lingen. Eine Familiengeschichte anhand von Amtsgerichtsakten 1813-1882, in: Remling, Ludwig (Hg.): Aus der Geschichte Lingens und des Lingener Landes. Festgabe für Walter Tenfelde zum 70. Geburtstag, Lingen 1989, S. 55-64.
  • Tenfelde, Walter: Die Grabplatten der Stadt Lingen. Eine familiengeschichtliche Abhandlung (Die Lingener Heimat 3), Lingen-Ems 1950.


Artikeldatum: 2. September 2020
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen