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Archivalie – Oktober 2019

Die Lingener Synagogengemeinde

Im Wohnhaus des Synagogenvorstehers Isaac Friedland in der Lookenstraße 2 fanden die ersten Gottesdienste statt. Das Foto entstand um 1915

Im Königreich Hannover wurde 1842 das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden“ erlassen. Demnach musste jeder Jude des Königreichs Mitglied einer Synagogengemeinde sein. Im Emsland entstanden nun die Synagogengemeinden Haren, Meppen, Sögel, Haselünne und Freren. Im Juli 1843 forderte die Landdrostei den Lingener Magistrat auf, den Vorsteher der Lingener Judenschaft oder andernfalls einen „einsichtsvollen Juden“ zu befragen, welcher Synagogengemeinde die Lingener angehören oder sich anschließen möchten. Der Magistrat kontaktierte daraufhin Salomon Joseph Meyberg, der sich dafür aussprach, sich der Frerener Gemeinde anzuschließen. Ohnehin bestand als lockerer privatrechtlicher Zusammenschluss längst eine Kultusgemeinschaft mit Freren. Als Betsaal nutzte man einen Raum im Haus des Frereners Joseph Weinberg. Für die Unterhaltung eines eigenen Betraumes war man in Lingen zu arm.

Und so wurde Lingen – wie auch Lengerich, Thuine und Fürstenau – Teil der Synagogengemeinde Freren. Sie wurde 1844 anerkannt und Joseph Weinberg als ihr Vorsteher bestätigt. Die Gemeindemitglieder bildeten zugleich einen gemeinsamen Armenverband, nutzten gemeinsam den jüdischen Friedhof in Lingen und unterhielten einen eigenen Lehrer. Die Orientierung nach Freren bot allerdings einige Unannehmlichkeiten. In Befolgung der Regeln des Schabbat mussten die Lingener zu Fuß zum Gottesdienst nach Freren laufen und dort auch übernachten.

In den nächsten Jahren nahm die Zahl der Lingener Juden stetig zu. Waren es 1844 noch 15, stieg ihre Zahl bis 1864 auf 35, bis 1873 schließlich auf 95. Damit wuchs nicht nur das Bedürfnis, sondern auch das finanzielle Potenzial zur Errichtung einer eigenen Synagogengemeinde. Im Juni 1868 unterbreitete der Kaufmann Bernhard Friedland im Namen der Lingener Judenschaft den Plan dem Landrabbiner Dr. Hamburger aus Emden. Die Regierung, die einer Gründung zustimmen musste, machte das Placet des Landrabbiners Hamburger zur Voraussetzung und forderte ihn noch im selben Monat zu einem Gutachten auf. Hamburger informierte sich daraufhin über die Verhältnisse vor Ort. Sei man mit der Einrichtung eines Gottesdienstes in Lingen einverstanden, wenn die anderen Punkte des Vertrages mit Freren unberührt blieben? Gebe es einen geeigneten Raum für den Gottesdienst? Wer soll die notwendigen Einrichtungsgegenstände besorgen wie Torarolle, Bundeslade, Betpult und Sitzstellen? Und wer könnte als Vorbeter fungieren? Am 3. August 1868 kam Hamburger persönlich nach Lingen, und ließ sich überzeugen, mit Freren lediglich die Friedhofs- und die Schulgemeinschaft aufrechtzuerhalten.

Nachdem die Landdrostei in Osnabrück nicht nur mit dem Landrabbiner, sondern auch mit dem Lingener Magistrat und dem Königlichen Amthauptmann des Amtes Freren Rücksprache gehalten hatte, stimmte sie am 14. September 1869 der Gründung der Lingener Synagogengemeinde zu. Zugleich beauftragte sie den Magistrat, die Lingener Juden über diese Entscheidung zu informieren und die weiteren Schritte zur Konstituierung der Gemeinde zu veranlassen. Entsprechend lud Polizeisergeant Behrens die sechs stimmberechtigten Gemeindemitglieder zur konstituierenden Sitzung am 30. September, mittags um 12 Uhr, auf das Rathaus. Das Datum darf damit als Gründungstag der Gemeinde gelten. Nun wurde in Anwesenheit des Bürgermeisters von Beesten der Gemeindevorsteher gewählt, der zugleich Rechnungsführer sein sollte. Die Wahl fiel einstimmig auf den einzigen Eingeladenen, der nicht erschienen war: Isaac Friedland. Friedland meldete sich erst am 5. Oktober beim Bürgermeister, nahm die Wahl an und wurde an Eidesstatt per Handschlag auf sein neues Amt verpflichtet.

Der Landrabbiner entwarf nun die Statuten für die neue Gemeinde und legte sie im Dezember 1869 dem Lingener Magistrat vor. Der hatte zwar zunächst gewisse Vorbehalte wegen der Vermietung von Sitzplätzen und des Einzugsgeldes für neue Mitglieder, doch signalisierten er und schließlich auch die Landdrostei ihre Zustimmung. Die Statuten blieben in Kraft, bis sie im September 1913 von einer neuen Satzung abgelöst wurden. Auch ein Geburtenbuch wurde nun angelegt und bis zur Einführung der standesamtlichen Geburtenregister 1874 gepflegt.

Der Gottesdienst, durchgeführt nach altem Ritus, fand zunächst in einem angemieteten Raum im Haus von Isaac Friedland in der Lookenstraße 2 statt. Das war von Anfang an nur als Übergangslösung geplant. Bereits im Oktober 1869 hatte man einen Fonds zum Bau einer Synagoge beschlossen. Doch bis zur Realisierung sollten Jahre ins Land gehen. Das Geld war knapp, die Zustände im Betraum wurden immer beengter, und schließlich drohte Friedland mit der Kündigung des Mietverhältnisses. Da man der Meinung war, Friedland zeige in der Angelegenheit ohnehin zu wenig Einsatz, gründete die Gemeinde im Oktober 1871 eine vierköpfige Kommission, die den Bau vorantreiben sollte. Doch erst mit der Gründung eines Bauvereins nahm das Projekt Fahrt auf. Im Januar 1878 erwarb man von dem Schlossermeister Carl Räkel ein Gartengrundstück vor dem Lookentor und begann sofort mit den Bauarbeiten. So konnte die Synagoge bereits am 19. September 1878 eingeweiht werden. Begleitet von Bürgermeister von Beesten und Superintendent Raydt wurde die Torarolle von der Lookenstraße in die neue Synagoge überführt. In der Folgezeit kam es in der Tagespresse erstmals in größerem Umfang zu antisemitischer Propaganda.

Der Schulverband mit Freren war zunächst erhalten geblieben. Die Lingener Kinder wurden auch weiterhin von einem dort angestellten, von Ort zu Ort reisenden Religionslehrer unterrichtet, während sie zum Elementarunterricht die evangelische Bürgerschule in Lingen besuchten. 1872 bemühte man sich dann aber doch um eine selbständige Lösung, was die Landdrostei im Folgejahr auch bewilligte. Im Mai 1875 wurde eine eigene Schule gegründet. Der Unterricht fand zunächst in dem von Friedland angemieteten Betraum statt, bis 1878 parallel zur Synagoge ein kleines Schulhaus gebaut wurde. Die Kinder erhielten Religionsunterricht, jedoch nur unregelmäßig auch Elementarunterricht. Finanzielle Engpässe, Streitigkeiten mit dem Lehrer und abnehmende Schülerzahlen ließen kaum ein geordnetes Schulleben zu.

Der Friedhofsverband blieb etwas länger bestehen, auch wenn die Lingener Juden bereits 1880 eine Chewra Kaddischa, eine eigene Kranken- und Beerdigungsbruderschaft ins Leben riefen. Der Verband wurde aufgelöst, als sich die Frerener und Lengericher Juden 1926 einen eigenen Friedhof anlegten.

Der Amt des Gemeindevorstehers wechselte häufiger. Auf Isaac Friedland folgten Ernst Lewy, Hermann Mendel, Philipp Frank, Hieronymus Hanauer, Max Frank und Hermann Hanauer. Angesichts hoher Schulden durch den Synagogenbau und einer allmählich schrumpfenden Gemeinde hatten sie alle mit finanziellen Problemen zu kämpfen. 1925 wurde mit Jacob Wolff der letzte Vorsteher gewählt. Als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten der Vorsteherposten im März 1934 turnusmäßig erneut zur Wahl gestellt werden sollte, erschienen zu wenige Gemeindemitglieder, um beschlussfähig zu sein. Erst bei einem zweiten Termin wurde Jacob Wolff von den nur fünf anwesenden Personen wiedergewählt. Da in der Folgezeit keine Wahlen mehr stattfanden, blieb er de facto zeit seines Lebens im Amt.

Unter nationalsozialistischer Herrschaft versuchten viele Lingener Juden die Flucht in die Niederlande, nach Belgien oder in die USA. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte auch in Lingen die Synagoge, und das Textilgeschäft Markreich, das letzte noch bestehende jüdische Geschäft, wurde zerstört. Am nächsten Morgen ließen SA und Polizei 19 jüdische Männer und Frauen verhaften. Sechs von ihnen – darunter der Vorsteher Wolff – verbrachten die nächsten Wochen im Konzentrationslager Buchenwald. Nach seiner Rückkehr bemühte sich Jacob Wolff gemeinsam mit seinem Stellvertreter Wilhelm Heilbronn um den Verkauf des Synagogengrundstücks. Im April 1939 verkauften sie es an zwei Nachbarn. Der Verkaufserlös von 1168 Reichsmark sollte eigentlich der Reichsvertretung der Juden in Berlin-Charlottenburg zugute kommen, um Lingener Juden bei der Ausreise zu unterstützen. Der Lingener Landrat erreichte jedoch eine Überweisung an den Bezirksfürsorgeverband der Kreisverwaltung. Jacob Wolff, seit seinem KZ-Aufenthalt gesundheitlich angegriffen, starb am 4. April 1941. Er wurde heimlich nachts auf dem Jüdischen Friedhof begraben. Es war die letzte Beerdigung in der NS-Zeit, die dort stattfand. Helga Hanauer ist 1976 auf dem jüdischen Friedhof beerdigt worden.

Eine offizielle Auflösung der Lingener Synagogengemeinde ist nicht bekannt. Seit dem Verkauf des Synagogengrundstücks trat sie als Instititution nicht mehr in Erscheinung. Im Dezember 1941 begannen die Deportationen. Unter den ersten war auch der stellvertretende Gemeindevorsteher Wilhelm Heilbronn. Von den 21 aus Lingen deportierten Juden wird seine Tochter Ruth als einzige die Konzentrationslager überleben. Die letzte jüdische Familie wurde im August 1942 aus Lingen deportiert.


Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 2080, Nr. 5821, Nr. 5823.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 2060, 2425.
  • Garmann, Josef: Untersuchungen zur Geschichte der Juden in der Emsstadt Lingen bis zum Ende des I. Weltkrieges, Münster 1968.
  • Kuhrts, Lothar: Beitrag zur Geschichte der Juden im Raum Lingen, (1985).
  • Landkreis Emsland (Hg.). Synagogen und jüdische Bethäuser im Emsland, Meppen 2001.
  • Remling, Ludwig: Art. „Lingen“, in: Obenaus, Herbert (Hg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005, S. 993-1001.
  • Scherger, Gertrud Anne: Verfolgt und ermordet. Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation, im Ghetto und in den Konzentrationslagern. Beitrag zur Verfolgungsgeschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 1998.
  • Schmidt-Czaia, Bettina: Kirche, Konfession, Schulen und Vereinswesen, in: Franke, Werner e.a. (Hg.): Der Landkreis Emsland. Geographie, Geschichte, Gegenwart. Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002, S. 441-474.


Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv, Stadtarchiv, Stadtarchiv