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Archivalie – Juli 2017

Henriette Flatow

Stolperstein an der Ecke Henriette-Flatrow-Straße / Gymnasialstraße.

Der Verbindungsweg zwischen Kivelingstraße und Baccumer Straße trug schon viele Namen. Im 17. und 18. Jahrhundert erschien er als Achter- oder Hinterstraße. Da er parallel zur Kirchstraße verläuft, bezeichnete man seine Häuser gelegentlich auch schlicht als „achter de kerke“ liegend. Nachdem hier 1859 das Georgianum in einem Neubau eingerichtet wurde, firmierte der Weg im ausgehenden 19. Jahrhundert als Schulstraße. 1950 erfolgte die Umbenennung in Heinrich-Schniers-Straße. Heinrich Schniers, Kaplan der Bonifatiuskirche, war nur acht Jahre zuvor im KZ Dachau gestorben. Das an der angrenzenden Gymnasialstraße liegende Bonifatiushospital dehnte sich indes immer weiter aus, bis in der Heinrich-Schniers-Straße keine Privathäuser mehr standen. So fand sich bald eine neue Heinrich-Schniers-Straße östlich der Rheiner Straße, und die alte wurde schließlich zu einem Teilstück der Baccumer Straße. Am 29. Juli 2002 erhielt sie den Namen Henriette-Flatow-Straße.

Name und Ort waren nicht zufällig gewählt, liegt die Straße doch zwischen dem alten und dem neuen Krankenhaustrakt. Das 1855 an der Gymnasialstraße gegründete Bonifatiushospital hatte die Aufgabe, ohne Ansehung der Konfession nicht nur kranke, sondern auch altersschwache Personen zu pflegen. Es war also auch ein Altersheim, in das man sich als Pfründner – sei es durch einmalige Zahlung oder durch Abtreten der monatlichen Rente – einkaufen konnte. Die Pfründner unterstützten das Hospital mit einfacheren Arbeiten. Die meisten waren Witwen oder ältere alleinstehden Dienstmägde und -knechte. Drei von ihnen waren jüdischen Glaubens. So wurde die fast achtzigjährige Lina Benjamin 1922 nach dem Tod ihres Bruders im Hospital aufgenommen und starb hier fünf Jahre später. Emanuel Friedland war bis zu seinem Tod 1933 im Krankenhaus als Knecht tätig. Und Pfründnerin im Bonifatiushospital war auch Henriette Flatow.

Henriette Flatow wurde am 18. Januar 1866 in Wormditt, Kreis Braunsberg, in Ostpreußen geboren. Sie blieb ledig. Im April 1915 zog sie von Rheine nach Lingen in die Rheinerstraße 57. Im September 1921 bezog sie das Haus Kaiserstraße 20, ein großes Eisenbahner-Mietshaus, in dem auch die jüdische Familie Gustav Joseph wohnte. Sie pflegte freundschaftlichen Kontakt zur Familie Heilbronn, die ebenfalls in der Kaiserstraße wohnte. Wohl im September oder Oktober 1929 schrieb Henriette Flatow sich als Pfründnerin ins Bonifatiushospital ein. Hier war sie offenbar als Küchengehilfin tätig. In der Meldekartei der Stadt erscheint sie als Invalide, im Adressbuch von 1938 als Rentnerin.

Im September 1941 wurden alle Juden verpflichtet, in sogenannte „Judenhäuser“ zu ziehen. In Lingen war das zunächst auch das Haus Wilhelmstraße 21 der Familie Herz, dann nur noch das Haus Marienstraße 4 von Emma Wolff, der Ehefrau des noch im selben Jahr nach einem Aufenthalt im KZ Buchenwald verstorbenen Synagogenvorstehers Jakob Wolff. In dem Haus herrschten beengte Verhältnisse, und es mangelte an Lebensmitteln. Henriette Flatow jedoch wurde vor dem Einzug ins „Judenhaus“ bewahrt.

Auf der Berliner Wannseekonferenz wurde im Januar 1942 unter Leitung des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich die organisatorische Durchführung des mit dem Angriff auf die Sowjetunion begonnenen Holocausts an den Juden festgelegt. Europa sollte von Westen nach Osten durchkämmt werden, die deutschen Juden zunächst in Durchgangsghettos gebracht und von dort weiter in den Osten transportiert werden. Juden mit einem Alter über 65 Jahren, mit Kriegsversehrung oder mit Kriegsauszeichnungen sollten im Ghetto Theresienstadt untergebracht werden. Die Deportationen nach Theresienstadt begannen am 2. Juni 1942.

Am 29. Juli wurden die letzten sieben Bewohner des Lingener „Judenhauses“ in der Marienstraße, darunter auch Emma Wolff selbst, nach Theresienstadt deportiert. Es waren vor allem ältere Personen. Einige kamen ursprünglich aus Meppen und Haren. Die meisten früheren Bewohner waren schon ein halbes Jahr zuvor nach Riga transportiert worden. Auch die inzwischen 76-jährige Henriette Flatow befand sich nun unter den Deportierten. Der letzte Eintrag auf ihrer Meldekarte lautet: „Auf Anordnung der Gestapo am 29.7.42 nach Münster W. überführt.“ Wohl von Lingener Polizeikräften wurden sie mit dem Zug nach Münster gebracht, von wo sie am 31. Juli mit einem Sammeltransport in das Altersghetto Theresienstadt geschickt wurden. Dort starb Henriette Flatow – wohl wie viele andere an den unmenschlichen Lebensbedingungen im Ghetto – nur wenige Monate später am 20. Januar 1943.

Am 29. Juli 2002, vor fünfzehn Jahren also und genau sechzig Jahre nach der Deportation Henriette Flatows, erhielt die Henriette-Flatow-Straße gemäß Ratsbeschluss vom 19. Juni ihren heutigen Namen, und das Straßenschild der Henriette-Flatow-Straße wurde feierlich enthüllt.

Quellen und Literatur:

  • Stadtarchiv Lingen, Einwohnermelderegister.
  • Stadtarchiv Lingen, FB Kultur, Nr. 171.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 1147.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Tagespost vom 27. und 31. Juli 2002.
  • Remling, Ludwig: Vom Belegkrankenhaus zum Anstaltskrankenhaus mit Fachabteilungen, in: Franke, Werner (Hg.): St. Bonifatius Hospital Lingen. Im Dienst am Nächsten, Bramsche 2005, S. 23-44.
  • Scherger, Gertrud Anne: Stolpersteine. Ein Wegweiser zu den Stolpersteinen für die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger der Stadt Lingen. Ein Stadtrundgang, Lingen 2013.
  • Scherger, Gertrud Anne: Verfolgt und ermordet. Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation, im Ghetto und in den Konzentrationslagern. Beitrag zur Verfolgungsgeschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 1998.
  • Vocks, Benno: Lingen wegweisend. 99 Straßen, Wege und Plätze. Porträts und Geschichte(n), Ahlen 2015.


Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv, Stadtarchiv