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Bielawa (Polen): „In Langenbielau ratterte die ganze Stadt“

Die Stadt Lingen und ihre Partnerstädte – fünf Länder, fünf Geschichten, eine Gemeinschaft
Dr. Andreas Eiynck befasst er sich seit vielen Jahren mit der Textilgeschichte Langenbielaus und damit der Partnerstadt Lingens in Polen.

Mit fünf europäischen Städten führt die Stadt Lingen seit vielen Jahren in enger Verbundenheit Städtepartnerschaften. Darunter Elbeuf sur Seine in Frankreich, Burton upon Trent in England, Bielawa in Polen, Marienberg in Deutschland und Salt in Spanien. So individuell wie die Länder und Städte selber sind auch die Geschichten über die jahrelangen Freundschaften ihrer Bewohner untereinander.

806 Kilometer liegt sie von Lingen entfernt, die Stadt Bielawa am Fuße des Eulengebirges in Niederschlesien. In ihr sind knapp 30.000 Einwohnern beheimatet. Seit dem 19. März 1993 verbindet den im 13. Jahrhundert gegründeten Ort eine enge Partnerschaft mit der Stadt Lingen. Dabei hätte der Wandel Bielawas in all den Jahren wohl nicht rasanter und gravierender sein können.

Alte Tradition: die Textilbranche

Blickt man auf die große, schwarz-weiße Broschüre, welche Dr. Andreas Eiynck auf dem robusten Holztisch seines Büros im Emslandmuseum in Lingen ausgebreitet hat, meint man auf die Abbildung einer ganzen Stadt zu schauen. Häuser stehen dicht beieinander, gewunden sind die Pfade, welche die mal kleinen, mal riesigen Bauwerke einrahmen. Rauchende Türme – sie müssen wohl hundert Metern hoch sein – blasen Dampf in die Weiten des Himmels. „Sie bildete einen ganzen Stadtteil“, korrigiert der Museumsleiter die anfängliche Vermutung und umkreist mit dem Finger die alte Fotografie. Denn diese zeigt keineswegs eine Großstadt, sondern das imposante Zentrum einer Jahrhunderte alten Tradition in Schlesien: der Textilbranche, die ihren Anfang in der Fabrik Dierig fand.

Die Vergangenheit Schlesiens in der Textilindustrie reicht lange zurück. Ihr einstiger Nabel liegt in Langenbielau – polnisch Bielawa. Dem Ort, der seit 1993 Lingens Partnerstadt ist. Im Jahre 1805 gründete Christian Gottlob Dierig dort eine Fabrik, die zum größte Textilbetrieb im damaligen Deutschen Reich wurde. Später, nach 1945, als volkseigener Betrieb unter dem neuen Namen Bielbaw die größte Textilfabrik in ganz Polen. Familie Dierig flüchtete nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach Augsburg. Der Branche blieb sie weiterhin treu. Auch in der Großstadt in Bayern wurden zwei Textilfabriken aus der Taufe gehoben. „Mittlerweile haben sie alles an Produktion aufgegeben und besitzen jetzt nur noch eine Immobiliengesellschaft“, erklärt Eiynck, während er auf ein leuchtend rotes Buch mit der Aufschrift „Dierig – Weber seit 1805“ deutet.

"Takt der Webstühle"

Der Landeshistoriker muss es wissen. Immerhin befasst er sich seit vielen Jahren mit der Textilgeschichte Langenbielaus. Mehrere Kisten, am Morgen frisch aus dem Museumsmagazin getragen, stapeln sich nun in dem kleinen Büro – Bücher, Souvenirs, Flyer. Eiynck schlägt einen dicken Bildband auf. Jahrzehnte alte Fotografien zeigen grüne Berglandschaften und Gruppen von Menschen, die die Schönheit alter Kirchen bestaunen. Mitten unter ihnen – damals noch mit braunerem Haarschopf – Dr. Andreas Eiynck. 1996 war es, als der Leiter des Emslandmuseums das erste Mal Bielawa besuchte. Inklusive der Fabrik. „Damals hatte die Firma Bielbaw einen vollstufigen Betrieb. Spinnerei, Färberei, Weberei und Veredelung – alles unter einem Dach. In Langenbielau ratterte zu der Zeit die ganze Stadt im Takt der Webstühle“, berichtet der Historiker. Mindestens 1500 Arbeiter, der Rest von einstigen mehr als 3000 Mitarbeitern, seien Ende der neunziger Jahre noch angestellt gewesen.

Doch die Realität kehrte Anfang der Zweitausender Jahre schnell ein. Heute, mehr als 200 Jahre nach Gründung der Fabrik, ist das Rattern der Webstühle verstummt. Seit über einem Jahrzehnt hat keiner mehr die leeren Hallen betreten. Dampfschwaden steigen längst nicht mehr aus Türmen gen Himmel empor. Sie sind nur noch Sinnbild für das endgültige Ende einer langen Traditionsgeschichte in Langenbielau. Der Konkurrenzdruck aus Fernost war einfach zu groß. 2008 meldete die Firma Insolvenz an. Selbst für den Einsatz von modernen Maschinen nach Übernahme der Fabrik durch ein belgisches Unternehmen war es zu spät. „Von der größten Fabrik erst in Deutschland, später in Polen, zur größten Arbeitslosigkeit in Niederschlesien“, zeichnet Dr. Eiynck die langen Nachwehen der Schließung mitsamt der Entlassung Tausender von Arbeitskräften.

Neuer Schwerpunkt: Tourismus im Eulengebirge

In den Zweitausendern dann die Wende. 2004 folgte der Beitritt Polens in die EU. Die Digitalisierung nahm Fahrt auf. In den Schulen wurde als Fremdsprache nun Englisch statt Russisch gelehrt. Der neue Fokus der Stadt sollte nicht mehr auf der wenig lukrativen Textilherstellung, sondern im Tourismus im malerischen Eulengebirge liegen. Und Langenbielau hat dies betreffend aufgeholt. Am westlichen Stadtrand gelegen findet sich mittlerweile ein Stausee, welcher Platz fürs Schwimmen, Segeln Surfen, aber auch die Erholung bietet. Ein Skatepark, ein Schwimmbad und eine Moto-Show-Strecke haben darüber hinaus dazu geführt, dass die polnische Stadt nicht den Anschluss verliert. Bielawa blickt in die Zukunft – auch ökologisch. Das Bewusstsein für die Umwelt zu schärfen hat einen hohen Stellenwert eingenommen. Förderlich ist das ebenfalls für die Städtepartnerschaften. Unter anderem in Zusammenarbeit mit Lingen ist so im Jahre 1999 der öffentliche Kindergarten Bielawas in einen ökologischen Kindergarten umgewandelt worden. Der Weg vom einstigen Textilzentrum hin zu einer Provinz, in der die Moderne Einzug gehalten hat, scheint in Bielawa gelungen zu sein. 



Artikeldatum: 11. Januar 2021
Fotos v.o.n.u.: Stadt Lingen, Bielawa, Bielawa, Bielawa, Bielawa, Bielawa