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Archivalie – Mai 2019

Der Erste Mai

Auf dem Marktplatz am 1. Mai 1951.

Am 1. Mai 1886 traten die Chicagoer Arbeiter in einen Generalstreik. Die Polizei trat ihnen entgegen, und am Ende waren zahlreiche Tote zu beklagen. Die Zweite Internationale nahm das als Haymarket-Massaker in die Geschichte eingegangene Ereignis 1889 zum Anlass, den ersten Mai zum Kampftag der Arbeiterbewegung zu erklären. Im April 1919 erklärte die Weimarer Nationalversammlung den 1. Mai 1919 – und nur diesen – mit den Stimmen von SPD, DDP und Teilen des Zentrums zum gesetzlichen Feiertag.

Das Wetter in Lingen am 1. Mai 1919 war schlecht. Es regnete. Dennoch fanden die Veranstaltungen eine rege Beteiligung. Schon morgens um 5 Uhr versammelten sich 300 Personen zu einem Maigang nach Schepsdorf. Bei Nehrschulte nahm man ein gemeinsames Frühstück ein. Um 10 Uhr traf man sich dann zur Festversammlung im Hotel Nave. Auch Vertreter des Magistrats und des Bürgervorsteherkollegiums waren anwesend. Nach Uhle (SPD) und Klukkert (DDP) ergriff Heinze das Wort, führte aus, wie sehr „das Proletariat unter der Knechtschaft des Kapitalismus zu leiden hatte“ und wie weit es „unsere alte Gewalt-Regierung“ gebracht habe „nach 4 ½ Jahre langem Morden“, bis endlich „der Arbeiter, die Sozialdemokratie, selbst das Steuer in die Hand nahm“. Heinzes abschließende Hoch auf das Proletariat wurde mit lautem Beifall aufgenommen. In einer anschließenden Resolution forderte man den Verzicht auf Gebietsabtretungen und die Wahrung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit Deutschlands.

Nachmittags kamen rund 2000 Personen am Steigerturm zu einem Festzug zusammen. Die Parteifahne – in den Worten Heinzes ein „Symbol der Arbeit“ – wurde enthüllt, und der Zug setzte sich in Bewegung zu einem Marsch durch die Stadt. Er endete auf dem Marktplatz, wo der Osnabrücker Gewerkschaftssekretär Grooß von der Rathaustreppe aus die Festrede hielt. Er erinnerte an das bisher Erreichte: den Achtstundentag, die Sonntagsruhe, das Frauenwahlrecht, allgemeine, gleiche und direkte Wahlen. Letzter Programmpunkt war ein großer Ball, der bis nach Mitternacht währte.
 
Die Feier war nicht unumstritten. Die christlich orientierte Gewerkschaft Deutscher Eisenbahner hatte zuvor in Lingen diskutiert, wie man sich zu den Maifeierlichkeiten, zu denen der sozialdemokratische Kreisverein eingeladen hatte, denn verhalten sollte. Und der zentrumsnahe Lingener Volksbote weigerte sich, über das Ereignis überhaupt zu berichten. Man wolle „zwecklosem (…) Parteigezänk“ vorbeugen. Der Redner Grooß hatte sich gewünscht, dass die nächste Maifeier in Lingen noch imposanter würde. Der Wunsch blieb unerfüllt. Der Maigang war vor 1933, wie die Darmer Schulchronik vermerkte, nur etwas für „eine kleine Gruppe Lingener Marxisten“.

Die Nationalsozialisten deuteten den Ersten Mai nationalistisch als „Tag der nationalen Arbeit“ oder als „Nationalfeiertag des deutschen Volkes“ in ihrem Sinne um. Er wurde nun dauerhaft zum gesetzlichen Feiertag. Auch in Lingen wurde der Erste Mai 1933 festlich begangen. Schon im Vorfeld hatte Bischof Berning dazu aufgerufen, die Kirchen mit Flaggen zu schmücken. Bereits am frühen Morgen wurde die Bevölkerung durch Böllerschüsse geweckt.
 
Veteranen und Mitglieder zahlreicher Lingener Vereine – insgesamt rund 3000 Männer – versammelten sich auf dem Marktplatz, um in einem Maigang erst nach Darme und dann über die Gelgöskenstiege bis zur Wilhelmshöhe zu ziehen, wo sie von zahlreichen Besuchern empfangen wurden. Reden wurden gehalten, erst von Pastor Niederschäfer aus Gersten, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gegenseitigem Respekt aufrief, dann von Pastor Illing aus Lingen, der dafür warb, mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen: „Gott ist es zu danken, daß er in der Stunde der Not uns einen Führer gab.“

Für den musikalischen Rahmen sorgten der Ev. Volksbildungsverein, der Kath. Gesellenverein und die SA-Kapelle. Zurück auf dem Marktplatz, löste sich der Zug schließlich auf. Abends versammelte man sich erneut auf der Wilhelmshöhe, um im Rundfunk die Rede Hitlers zu verfolgen. Nach anschließendem Zapfenstreich hielt Bürgermeister Plesse auf dem mit Feuer erleuchteten Marktplatz eine letzte Rede, bis die Veranstaltung mit Sieg-Heil-Rufen und dem Horst-Wessel-Lied schloss. Nicht wenige Lingener traten an diesem Tag in die NSDAP ein. Nur wenig später wurden landesweit die freien Gewerkschaften zerschlagen. In Lingen wurden am 4. Mai die Gewerkschaftsfunktionäre Baum, Wolters, Keppler und Melcher verhaftet. Letzterer war zugleich Vorsitzender der Lingener SPD.

1946 beschloss der Alliierte Kontrollrat die Beibehaltung des Feiertags, und auch in der Bundesrepublik blieb er als gesetzlicher Feiertag bestehen. Es war der Deutsche Gewerkschaftsbund, der zum Ersten Mai 1951 auf den Lingener Marktplatz eingeladen hatte. Tags davor hatte die Jugend noch einen Maibaum aufgestellt und um ihn herum einige Volkstänze aufgeführt. Nun erschien das Alte Rathaus grün geschmückt und mit Deutschlandfahnen zu beiden Seiten. Ein Spruchband verkündete „Friede, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“.
 
Im Namen der Lingener Ortsverwaltung des DGB begrüßte Punkt elf Uhr Herr Haase die versammelte Menge. Allerdings konnte er sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass die Anwohner des Marktes „die Arbeiter scheinbar nicht notwendig haben, weil sie es nicht für nötig gefunden hatten, die Häuser zu beflaggen und zu schmücken, während bei anderen Gelegenheiten der halbe Urwald in die Stadt geschleppt würde“. Auch der Personalreferent der Eisenbahndirektion Münster Dölken hielt eine Rede. Er erinnerte an den ersten Ersten Mai 1889, sprach über Marktwirtschaft und Planwirtschaft, soziale Wohnungsfürsorge und die hohe Zahl der Arbeitslosen. Zum Abschluss der Feierlichkeiten sang man mit „Brüder zur Freiheit, zur Sonne“ ein gemeinsames Lied.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, AV-Medien, Nr. 158.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 13329.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Volksbote, 7.5.1919. 2.5.1933, 2.5.1951.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingensches Wochenblatt, April und Mai 1919
  • Bojer, Reinhard: Sag mir, wo die Gräber sind… Kriegserinnerungen aus Darme, Hamburg 2002.
  • Remling, Ludwig: Von der Demokratie zur Diktatur. Lingen 1932-1933, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 2014, S. 75-106.
  • Schwarz, Helga: „Hausfrau und Mutter soll das Mädel werden“. Lingener Frauen im Dritten Reich (unveröff. Magisterarbeit), Göttingen 1989.
  • Steinwascher, Gerd: Politische Geschichte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Franke, Heiner e.a. (Hg.): Der Landkreis Emsland. Geographie, Geschichte, Gegenwart. Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002, S. 333-379.


Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv, Stadtarchiv, Stadtarchiv