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Archivalie – Juni 2020

Vom Wundarzt zum Krankenhaus

Der Apostel Andreas alias Andreas Wesken. Sandsteinfigur in der Lookenstraße.

Wer sich in Lingen einen Knochen gebrochen hatte, unter Zahnschmerzen litt oder unbedingt mal wieder einen Aderlass brauchte, der ging Ende des 17. Jahrhunderts zu dem Wundarzt und Chirurgen Andreas Wesken. Einer von ihnen war Hermann Klues aus Plantlünne. Der etwa vierzigjährige Klues hatte einen Nierenabzess und begab sich deshalb 1690 in Weskens Behandlung.

Der Wundarzt führte seinem Patienten mehrmals Urin und sonstige Materie mit einem Harnröhrenkatheter aus der Blase ab. Einmal jedoch drehte sich Klues mitten in der Behandlung im Bett um, der Katheter brach ab und blieb halb in der Blase stecken. Doch statt erwartungsgemäß zu sterben, meldete sich der Patient nach einigen Tagen erneut bei Wesken. Er verspüre ein gewisses Stechen.

Wesken setzte daraufhin das Brenneisen an, bemerkte dabei das abgebrochene Ende des Katheters und zog es vorsichtig aus Herman Klues heraus. Er überlebte, und Wesken fand den Vorfall offenbar so ungewöhnlich, dass er ihn sich urkundlich bestätigen ließ. Inzwischen ginge es Hermann Klues wieder gut, doch verspüre er noch eine gewisse Steifheit.

Von dem Wirken Weskens zeugt noch heute eine auf 1695 datierte Sandsteinfigur am Haus Lookenstraße 10 am Andreasplatz. Die Bildunterschrift weist sie als den Apostel Andreas aus. Der wa zwar eher der Schutzpatron der Fischer, Seiler, Metzger und Bergarbeiter, wurde aber auch bei Gicht, Halsweh oder Unfruchtbarkeit abgerufen.  Nicht zuletzt dürfte es sich bei der Figur jedoch auch um eine Art Selbstbildnis von Andreas Wesken handeln.

Ein Hippokrates-Zitat unterhalb der Figur erläutert das Berufsverständnis des Chirugen: „Quaecunque non sanant medicamenta, ea ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ea ignis sanat, quae ignis non sanat, ea incurabilia putare oportet.“ Was Medikamente nicht heilen, das heilt das Eisen (also die Klinge). Was das Eisen nicht heilt, das heilt das Feuer. Und was das Feuer nicht heilt, muss als unheilbar betrachtet werden.

Während sich der Chirurgus als Handwerker verstand, war der Medicus ein Akademiker und verfügte über ein entsprechendes Ansehen. Beide Berufsgruppen standen in Konkurrenz zueinander, und so darf Weskens selbstbewusste Sandsteinfigur durchaus im Zusammenhang mit der Gründung der Hohen Schule 1697 gesehen werden. Neben einer theologischen, philosophischen und juristischen hatte diese nämlich auch eine medizinische Fakultät.

Doch Weskens Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Denn erst 1707, vier Jahre nach Weskens Tod, gelang es der Hohen Schule, mit Heinrich Wilhelm Lüning erstmals einen Medizinprofessor einzustellen. 1738 folgte ihm sein Schwiegersohn Johann Bernhard Hüllesheim nach.

Die Hohe Schule hatte bald mit schweren Problemen zu kämpfen. Die Zahl der deutschen Professoren nahm zu, und die Zahl der meist niederländischen Studenten nahm entsprechend ab. Auch Professor Hüllesheim geriet unter Druck. Ihm wurde vorgeworfen, er habe im Jahre 1751 keine einzige Vorlesung gehalten. Doch Hüllesheim wies das von sich. Natürlich habe er vorgelesen, solange er denn Zuhörer gehabt hätte. Inzwischen habe er aber wieder einen Studenten.

Das eigentliche Problem war, dass es keinen medizinischen Anschauungsunterricht gab. Es gab kein Hospital, es fehlten die Leichen, und so blieben auch die Studenten aus. Nur einmal habe Hüllesheim ein im Gefängnis verstorbenes „Zigeunerkind“ mehrere Wochen lang öffentlich seziert. Weitere Versuche, an Leichen zu kommen, seien jedoch erfolglos geblieben.

Das Kuratorium unterstützte Hüllesheims Position und musste sich von der Regierung deshalb anhören, es sei „ungereimt und befremdlich, daß Ihr einer dergleichen lächerlichen Verantwortung mit Eurem Bericht zu unterstützen Euch nicht entblödet.“ Wenn Hüllesheim seine Besoldung behalten wolle, dann soll er auch Physik und Botanik unterrichten. 1780 folgte auf den verstorbenen Hüllesheim Ludwig Leonhard Finke. Finke war der letzte Lingener Medizinprofessor. 1819 wurde die Hohe Schule geschlossen.

Ein Krankenhaus entstand in Lingen erst 1855 mit dem Bonifatiushospital. Die Initiative lag bei Johann Bernhard Diepenbrock, seit kurzem Pastor der katholischen Bonifatiuskirche. Zusammen mit drei Kaufleuten erwarb er das Haus des Arztes van Neß in der Gymnasialstraße, ursprünglich um hier eine Mädchenschule einzurichten.

Öffentlichkeit und Magistrat drängten jedoch auf ein Krankenhaus. Die Krankenpflege wurde von katholischen Schwestern des münsterischen Mauritzklosters geleistet. Dennoch stand das Hospital allen Konfessionen offen, und anfängliche Vorbehalte der Protestanten schwanden bald.

Mit zunehmendem Bevölkerungswachstum stieg auch die Zahl der Patienten. Bei zunächst 30 Betten nahm man bald über 180 Patienten pro Jahr auf – meist wegen Typhus, Lungentuberkulose, Ödemen, Krätze oder Wundverletzungen. Die Kapazitäten reichten bald nicht mehr aus.

Als 1889 endlich die Genehmigung zu einem Neubau erteilt wurde, stellte sich die Frage des Standortes. Die Nachbarn – die reformierte Kirche, die evangelische Bürgerschule und das ursprünglich reformierte Georgianum – waren für eine Verlegung außerhalb der Stadt. Das entsprach zwar den hygienischen Vorstellungen der Zeit, schien aber durchaus auch konfessionell impliziert.

Der Neubau erfolgte 1889/91 dann aber doch in der Gymnasialstraße. Das alte van Neß’sche Haus wurde teilweise abgerissen und zur Isolierstation umgebaut. Trotz Erweiterungen wurde der Platz im Laufe der Jahrzehnte erneut knapp. 1982 wurde der in Richtung Wilhelmstraße errichtete Neubau bezogen.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
  • Franke, Werner (Hg.): St. Bonifatius Hospital Lingen. Im Dienst am Nächsten, Bramsche 2005.
  • Hoffmann, Aloys: Das Medizin-Studium in Lingen 1751, in: Kivelingszeitung 1972, S. 45.
  • Köhne, Georg: Inschriften an alten Häusern unserer Stadt, in: Kivelingszeitung 1967, S. 33.
  •  Püschel, E.: Wundarzt A. Wesken, +1703. Beurkundung einer ungewöhnlichen Operation, in: Kivelingszeitung 1975, S. 29-35.
  • Taubken, H.: Niederdeutsch - Niederländisch - Hochdeutsch. Die Geschichte der Schriftsprache in der Stadt und in der ehemaligen Grafschaft, Köln 1981.


Artikeldatum: 2. Juni 2020
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen