Lingen wurde 975 zum ersten Mal erwähnt. Lag der ursprüngliche Siedlungsschwerpunkt in Altenlingen, so hatte er sich noch vor 1150 zur heutigen Lingener Innenstadt verschoben. Für 1250 lässt sich ein Lingener Kirchspiel („parrochia Linge“) belegen. Ab 1300 mehren sich schließlich die Anzeichen, dass Lingen von einer Siedlung („villa“) inzwischen zu einer Minderstadt ausgebaut worden ist: 1306 wird Lingen erstmals als „civitas“ bezeichnet, 1320 als „oppidum“. Ein Lingener Marktrecht lässt sich im Jahre 1300 erstmals belegen. Am Tag der heiligen Walburga (1. Mai) und am Tag der 11.000 Jungfrauen (21. Oktober) fand ein Jahrmarkt statt.
Auch die Kirche mitten auf dem Marktplatz war der heiligen Walburga geweiht. Vielleicht ebenfalls schon um 1300 errichtet, wird sie erstmals erwähnt, als der Osnabrücker Kanoniker Konrad von Bremen, Archidiakon zu Lingen, 1367 die Stiftung einer Vikarie zu Ehren der Jungfrau Maria und des Evangelisten Johannes in der Walburgakirche bestätigte. Gefördert wurde das Vorhaben auch vom Grafen von Tecklenburg, der nicht nur Herr von Lingen war, sondern auch Patron der Walburgakirche. Der neue Vikar sollte am größeren Altar der Stadtkirche die erste Messe bei Sonnenaufgang lesen und außerdem jeden Samstag in der „alten Kirche“ („in veteri ecclesia in Linghen“) die Messe lesen, es sei denn, am Sonntag sei Feiertag oder eine Beerdigung in der „größeren Kirche“ („in ipsa ecclesia maiori“).
Die Walburgakirche hatte also einen Vorgänger. Diese älteste Lingener Kirche lag auf einem Hügel jenseits des Mühlenbachs und damit zwar außerhalb der Stadtbefestigung, aber immer noch innerhalb des Lingener Rechtsbezirks. Sie ist die Keimzelle des Alten Friedhofs. 1456 wird sie als „olde kercke buiten Lingen“ erwähnt. Bis zum Bau der Marktkirche könnte sie ebenfalls der heiligen Walburga geweiht gewesen sein. Spätestens ab 1367 ist sie aber mit der Jungfrau Maria verbunden: Nicht nur, dass der Inhaber einer der Maria geweihten Vikarie hier am Samstag – dem traditionellen Wochentag der Maria – die Messe lesen sollte, in der Kapelle befand sich auch ein Gnadenbild der Jungfrau Maria. Dass der Graf von Tecklenburg 1518 bei der Einnahme Lingens durch den Bischof von Münster entkommen konnte, schrieb eine darüber verfasste Beschwerde eben diesem Gnadenbild zu. Und eine spätere Chronik schrieb: „Diese Kapelle war einst für ihre Wunder berühmt.“ Tatsächlich war die Marienkapelle am 1. Mai – eigentlich dem Festtag der Marktkirche! – das Ziel von Wallfahrern. Der Lokalhistoriker Ludwig Schriever schrieb 1910: „Von allen Seiten zogen am 1. Mai Wallfahrer in großen Scharen heran und verrichteten hier ihre Andacht. An den Wänden der Kapelle hingen Devotionalien und Votivgeschenke von Krüppeln und Lahmen, welche hier ihre Gesundheit erhalten haben sollten.“
Auch die Marienkapelle könnte ursprünglich der heiligen Walburga geweiht gewesen sein, bis das Patrozinium auf die neu errichtete Marktkirche überging. Dass die Wallfahrer am Walburgatag nicht die Marktkirche, sondern die alte Kirche besuchten, scheint für diese These zu sprechen. Eine Walburgakirche gab es etwa in Emden und Groningen, aber auch in Zutphen. Letzteres ist insofern interessant, als dass die Grafschaft Tecklenburg, zu der auch Lingen gehörte, im einstigen Einflussgebiet der Grafen von Zutphen entstand, nachdem Graf Heinrich I. von Zutphen um 1120 kinderlos starb. Heinrichs Vater Otto II. von Zutphen (+1113), genannt der Reiche, baute nicht nur die Zutphener Walburgakirche wieder auf, sondern galt auch als besonderer Förderer der Kirche. Ob er auch für den Bau der ältesten Kirche Lingens verantwortlich war, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis.
Die Stadtansicht des Jacob van Deventer zeigt die Marienkapelle um 1560 mit einem westlichen Kirchturm auf einem rechteckigen Kirchplatz. Mit der Stadt ist sie durch einen Kreuzweg verbunden. Die Walburgakirche auf dem Marktplatz ist hingegen nur noch in Umrissen erkennbar. Sie wurde 1542 abgerissen und an ihrer Stelle die heutige Reformierte Kirche in der Kirchstraße errichtet. Damit hatte die alte Kirche die neue überlebt.
Bei den Belagerungen Lingens 1597 und 1605 wurde die Marienkapelle stark in Mitleidenschaft gezogen. Sie wurde wieder instandgesetzt und ihr Altar am Freitag nach Ostern (27. April) 1612 neu geweiht. Etwa zu dieser Zeit (um 1605/1619) entstand das „Contrafeizell von de Stadt Linge“, eine nach Südosten ausgerichtete Umgebungskarte, auf der auch die Marienkapelle mitsamt Kirchhof abgebildet ist. Hinter der Kapelle ist als kleines Gebäude das Antonius-Gasthaus erkennbar. Dieses städtische Armenhaus lag ursprünglich vor dem Burgtor, wurde aber bereits Mitte des 16. Jahrhunderts zum Kirchhof verlegt.
1724 berichtete der Lingener Magistrat in einer selbstverfassten Stadtbeschreibung: „Außerhalb der Stadt liegt ein kleiner Berg, welcher als Kirchhof dient, worauf die Toten begraben werden. Daselbst befindet sich auch eine Kirche, worin die Leichenpredigten gehalten werden. Nahe an der Kirche liegt ein Gasthaus, worin einige betagte alte Leute unterhalten werden.“ Ein letztes Mal erscheint die Marienkapelle auf einem Gemälde des Lingener Malers Theodor Wasmuth aus dem Jahre 1776. Auch hier ist der Kirchturm nach Westen ausgerichtet. Die erhöhte Lage auf dem Friedhofsberg ist gut zu erkennen. Bei dem links vorgelagerten Gebäude dürfte es sich einmal mehr um das Antonius-Gasthaus handeln. Noch zu dieser Zeit, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sollen am 1. Mai noch viele Katholiken den Kirchhof besucht haben, um dort zu beten.
Anfang des 19. Jahrhunderts zeigte sich der Friedhof in einem zerrütteten Zustand. Eine Einfriedung, um streunendes Vieh abzuhalten, fehlte, die Begräbnisstellen waren überbelegt und in den 1820er Jahren wurden mehrfach Grabplatten entwendet. Es scheint, als sei auch die Marienkapelle in dieser Zeit verfallen und endgültig abgerissen worden. Auf einem Friedhofsplan von 1830 taucht sie schon nicht mehr auf.
Quellen und Literatur: