Wie in anderen Städten auch hatte es in Lingen ursprünglich eine Wachpflicht für sämtliche männliche Einwohner gegeben. Doch wuchs der Widerstand gegen diese lästige Pflicht, und insbesondere die städtische Oberschicht suchte sich davon zu befreien. Schließlich gab auch die Stadt Lingen das alte System auf und stellte bezahlte Nachtwächter ein. Im 18. Jahrhundert hatte man vier städtische Nachtwächter. Unterwegs waren sie entweder mit einer hölzernen Ratel oder Ratsche, wie sie auch im ostfriesischen und niederländischen Raum üblich waren, oder mit einem Blashorn. Entsprechend unterschied man „Ratelwächter“ auf der einen Seite und „Blasewächter“ oder „Hornwächter“ auf der anderen. Erkennbar waren sie an ihrer Amtskleidung, den „NachtRöcken“. Der Lingener Chronist Johann Christoph Gabel berichtet 1787, dass „die Wächter alle halbe und ganze Stunden radeln oder rufen und die Zeit anzeigen müssen“.
1737 starb der alte Ratelwächter Haine. Gleich am nächsten Tag erschien der Kleidermacher Christoff Carl vor dem Magistrat und bat angesichts seiner Armut darum, die Nachfolge antreten zu dürfen. Der Magistrat stimmte zu, und so musste sich Carl eidlich verpflichten, dass er „alle stunde beharlig auff alle gaßen patrolliren“, mit seiner Ratsche „alle verdachtige Ohrtere gnau besichtigen“ und, soweit es in „seynem Vermogen“ stehe, alles zum Nutzen der Stadt befördern werde. Noch im selben Jahr starb auch der Blasewächter Osewalt. Der andere Blasewächter Jan Schulte genannt KoeJan hatte während dessen sechswöchiger Krankheit das nächtliche Wachtblasen für ihn übernommen und das eingesammelte Geld mit Osewalts Witwe geteilt. Nun bat er darum, noch bis Ostern das „nacht wacht blasen“ allein zu übernehmen. Der Magistrat war einverstanden, betonte aber, dass Osewalts Witwe weiterhin beteiligt werden müsse und Schulte, wenn er seiner Arbeit nicht gerecht werde, mit derben Strafen zu rechnen habe.
Wie der Henker und der Gefängniswärter gehörte der Nachtwächter zu den unehrlichen Berufen. Zur fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz kam eine notorisch schlechte Vergütung. Dies stand allerdings in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Nachtwächter für die städtische Sicherheit. Diese Diskrepanz konnte sich nur negativ auf ihre Zuverlässigkeit auswirken. Entsprechend hoch waren die angedrohten Strafen bei Versäumnissen. 1746 wurden alle vier Nachtwächter auf das Alte Rathaus zitiert und angemahnt, von 9 Uhr abends bis zum morgen (im Winter bis 4 Uhr) „ihre Stunde zu blasen und zu rädeln“ und alles ordentlich zu observieren. Sollte ein Feuer in der Stadt ausbrechen oder ein anderes Unglück geschehen und herauskommen, dass sie ihre Wacht vernachlässigt hätten, sollten sie „derbe bestraffet“ und gegebenenfalls sogar „nach Wesel geschicket und an die Carre geschloßen“ werden. Gemeint ist eine Karrenstrafe, bei der man zum Arbeiten an einen Karren gekettet wurde. Freilich versprachen die vier Nachtwächter, wachsam zu bleiben.
In eine ganz ähnliche Richtung ging die Eidesformel der Lingener Nachtwächter, die spätestens ab 1750 Anwendung fand. Sie lautete für die Blasewächter (in hochdeutscher Übersetzung):
„Ich N.N. gelobe und schwöre zu Gott, dem Allmächtigen, dass ich als bestellter Nachtwächter sorgfältig und treufleißig jede zweite Nacht im Winter (also von Michaelis bis Ostern) meinen Dienst tun wolle; des Abends um 9 Uhr mit Blasen durch alle Straßen und Örter der Stadt anfangen und alle Stunde bis morgens um 4 Uhr inklusive ohne Unterlass fortfahren wolle; zur Verhütung von Feuergefahr, Diebereien und sonstigen Exzessen treufleißige Acht haben wolle; und auch ebenso von Ostern bis Michaelis verfahren wolle, jedoch in dieser Zeit nur von 10 Uhr Abends bis 3 Uhr morgens alle Stunde blasen und die Wacht halten wolle; und außerdem mich in meinem Dienst betragen wolle, wie es einem christlichen, ehrlichen und aufrichtigen Nachtwächter eignet und gebührt, so wahr mir Gott helfe durch seinen Sohn Jesus Christus.“
Norm und Praxis wichen allerdings durchaus voneinander ab. 1771 stellte der Magistrat fest, dass die Nachtwächter „aller vom Magistrat geschehenen Erinnerungen ohngeachtet ihr devoir sehr schlecht verrichten“. In einer Märznacht des Jahres 1784 kam es zu einem weiteren Zwischenfall. Beim Regierungsdirektor wurden die Fenster eingeschlagen, und Nachtwächter Stein musste zugeben, dass seine Frau und sein Sohn für ihn den Nachtdienst geleistet hatten, weil er selbst als Bote außer Landes gewesen wäre. 1802 verlangte der Magistrat gar eine schriftliche Verpflichtung, die Saumseligkeiten im Dienst fortan zu unterlassen. Alle vier Nachtwächter unterschrieben mit Kreuzen, keiner von ihnen konnte lesen oder schreiben. 1805 dann beschwerte sich der Akziseinspektor Leesemann, der hinter der Lateinschule wohnte. Bei ihm sei in der Nacht eingebrochen worden, die Nachtwächter aber habe er um Mitternacht das letzte Mal gehört. Solche Nachtwächter, so Leesemann, verdienten wohl eher Nachtschläfer genannt zu werden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gingen die Aufgaben der Nachtwächter zunehmend auf die Polizei über. Die Bezeichnung „Nachtwächter“ verschwand schließlich ganz. Stattdessen wurden 1919 zwei „Nachtpolizeibeamte“ bzw. „Hilfspolizeibeamte für den Nachtwachdienst“ eingestellt. Sie bekamen ein Dienstfahrrad ausgehändigt und 1921 wurden ihnen drei Begleithunde zur Seite gestellt.
Quellen und Literatur: