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Lingen im Nationalsozialismus

Sitzungssaal im Alten Rathaus nach dem Tod Hindenburgs 1934

1. Die „Machtergreifung“

Als Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, befanden sich viele Lingener im Bett. Eine Grippewelle hatte die Stadt erfasst, und für mehrere Tage blieben die Schulen geschlossen. Die Reichstagswahlen am 5. März fanden bereits unter erschwerten Bedingungen statt. In Lingen konnte die NSDAP um fast 10 Punkte zulegen und kam nun auf 27,9%. Sie blieb damit aber immer noch deutlich unter dem Reichsdurchschnitt (43,9%), und das Zentrum konnte sich als stärkste Kraft (39,3%) behaupten. Auch bei der Neuwahl des Bürgervorsteherkollegium eine Woche später hatte die NSDAP keine Mehrheit.

Nach der Reichstagswahl wurde auf dem Stadthaus die Hakenkreuzfahne,  gehisst und auch das Alte Rathaus entsprechend beflaggt. Andere öffentliche Gebäude wie das Georgianum oder das Amtsgericht folgten. Als das neue Bürgervorsteherkollegium Ende März zum ersten Mal zusammentrat, war auch der Sitzungssaal im Alten Rathaus umgestaltet worden.

Der Vertreter der inzwischen verbotenen KPD nahm an der Sitzung schon nicht mehr teil, von der SPD kam nur eines von zwei Mitgliedern. Und die bürgerlichen Parteien zeigten sich zur Zusammenarbeit mit der NSDAP durchaus bereit. Allerdings schrieb der NSDAP-Vorsitzende Erich Plesse bereits Anfang April einen Brief an den neuen NS-Regierungspräsidenten in Osnabrück, beklagte den schweren Stand der NSDAP in Lingen und forderte die Entlassung von fünf Personen, darunter auch Bürgermeister Gilles (Zentrum). Der Regierungspräsident reagierte umgehend. Er berurlaubte alle fünf und ernannte den 25-jährigen Studienabbrecher Plesse zum kommissarischen Bürgermeister.

Gilles hatte das Bürgermeisteramt auf Lebenszeit inne und war deshalb nicht ohne weiteres absetzbar. Die NSDAP startete deshalb eine Hetzkampagnie gegen ihn. Der Vorwurf lautete auf Unterschlagung und Korruption. Gilles beantragte daraufhin ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst, bat dann aber doch um die Versetzung in den Ruhestand. Das Verfahren gegen ihn wurde schließlich ergebnislos eingestellt.

Immer mehr Zentrumsmitglieder blieben dem Kollegium fern, und so verfügte die NSDAP de facto bereits im Mai 1933 über eine Mehrheit. Von ihrer Stimmenmehrheit hatten die bürgerlichen Fraktionen bis dahin ohnehin kaum Gebrauch gemacht. Die SPD hatte sich unter dem Spott der NSDAP gerade zur Kooperation bereiterklärt, als sie im Juni verboten wurde. Im Juli löste sich die Zentrumspartei reichsweit auf. Andere Bürgervorsteher schlossen sich als Hospitanten der NSDAP an. Als im September 1934 ein neues Kommunalparlament gewählt wurde, stand nur noch eine Einheitsliste der NSDAP zur Wahl.

Am 1. Mai 1934 wurde Plesse vom Regierungspräsidenten zum Bürgermeister ernannt. Mit 26 Jahren war er der jüngste Berufsbürgermeister des Reiches. Die Phase der kommunalen Machtergreifung war damit faktisch abgeschlossen. Kaum ein Jahr später wurde Plesse zum Reichsredner der NSDAP ernannt und sprach fortan auf großen NSDAP-Veranstaltungen im ganzen Reich. Da ihm die Qualifikation eines Richters oder höheren Verwaltungsangestellten fehlte, musste ein entsprechend vorgebildeter Erster Beigeordneter ernannt werden. Die Wahl fiel schließlich auf den Rechtsanwalt Kreip. Weitere Beigeordnete wurden der inzwischen zur NSDAP übergetretene Georg van der Brelie, außerdem der Gastwirt Heskamp (NSDAP) und der Vorschlosser Ehlers (NSDAP).

Die Gleichschaltungsbestrebungen der Nationalsozialisten machten auch vor der Lingener Stadtverwaltung nicht halt. Polizeikommissar Heine war bereits beurlaubt worden. Das Berufsbeamtengesetz schuf die Möglichkeit, weitere Mitarbeiter zu entlassen. So wurde der Städtischen Sparkassenangestellten Selma Hanauer und dem Arbeiter Johann Többen gekündigt. Selma Hanauer war Jüdin, Többen Kommunist. Dass er erklärte, sich der neuen Regierung „voll und ganz zu unterwerfen“, änderte an seiner Entlassung nichts.

Während die bürgerlichen Kräfte unter zunehmendem Anpassungsdruck standen, blieb den linken Kräften – SPD, KPD und Gewerkschaften – nur Exil, Resignation oder die Flucht in den Untergrund. Nach dem KPD-Verbot wurden bei verschiedenen Mitgliedern Hausdurchsuchungen durchgeführt. Flugblätter und Plakate wurden beschlagnahmt, einige KPD-Funktionäre verhaftet. Dann besetzten SS und SA die Büros der freien und christlichen Gewerkschaften und beschlagnahmten Akten. In einer – wie das Lingener Kreisblatt es nannte – „Säuberungsaktion großen Stils“ wurden sozialdemokratische und kommunistische Parteivertreter verhaftet. Ihre Fahnen wurden öffentlich auf dem Marktplatz verbrannt. Nur wenige Tage nach den aufwendig begangenen Maifeierlichkeiten erfolgte im Rahmen der Gleichschaltung der freien Gewerkschaften die Verhaftung der Gewerkschaftsfunktionäre Baum, Wolters, Keppler und Melcher. Letzterer war zugleich Vorsitzender der Lingener SPD. Die christlichen Gewerkschaften blieben zunächst verschont und nahmen sogar an der Maifeier teil. Sie wurden Ende Juni gleichgeschaltet.

Auf Initiative des aus Herford stammenden Fritz Dunker gründete sich die Lingener KPD im Untergrund neu. Dunker suchte den Kontakt zu früheren KPD-Mitgliedern. Johann Heinrich Otten lehnte die Verantwortung für eine Neugründung ab, vermittelte aber den Kontakt zu Heinrich Sanders. Die Gründung fand an einer der Kanalbrücken statt. Sanders übernahm die politische Leitung, Bernhard Börgermann, der wegen Beleidigung Hitlers bereits im KZ Moringen gewesen war, unterstützte ihn als Organisationsleiter. Man war noch im Aufbau begriffen, als Dunker im September 1934 verhaftet wurde und schließlich auch die Gründung der Ortsgruppe zugab. Die Mitglieder wurden verhaftet und zu Zuchthausstrafen verurteilt. Sanders und Börgermann saßen später im KZ Sachsenhausen ein. Nach der Zerschlagung der KPD-Ortsgruppe war an eine organisierte Untergrundarbeit nicht mehr zu denken. Widerstand äußerte sich fortan nur noch in Einzelaktionen.

Wie gefährlich ihre Lage war, wurde den Lingener Sozialisten durch die nahegelegenen Emslandlager deutlich vor Augen geführt. Hier saßen Homosexuelle, Juden und Zeugen Jehovas ein, vor allem aber dienten die Lager der Internierung von Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftern. Bereits 1933 entstanden drei Konzentrationslagern in Esterwegen, Börgermoor und Neusustrum. Geleitet wurden die Baumaßnahmen vom Preußischen Staatshochbauamt Lingen. Am 1. Juli vermeldete das Lingener Kreisblatt die Internierung der ersten rund hundert kommunistischen Schutzhäftlinge. Es wurden schnell Tausende. Nach Abschluss der Machtergreifung erfolgte die Umwandlung in Strafgefangenenlager. Bis 1938 wurden zwölf weitere Lager errichtet.

Das Ende der freien Gewerkschaften und die Zerschlagung von SPD und KPD wurden in der konservatisch-katholisch geprägten Bevölkerung mit einer gewissen Genugtuung wahrgenommen. Auch die Emslandlandlager wurden nicht verschwiegen, sondern waren Teil der öffentlichen Berichterstattung. Mehrfach berichtete die Lokalpresse etwa im Herbst 1933 über Erschießungen bei Fluchtversuchen. In der Bevölkerung wurden die Lager durchaus wohlwollend betrachtet. Die Internierung der Sozialisten und ihr Einsatz als Zwangsarbeiter bei der Moorkolonisierung unter den Augen von SS und SA empfand man als gut und nützlich. Nicht zuletzt profitierten von den Arbeitsaufträgen, die in den Lagern vergeben wurden, auch Lingener Betriebe.

Von der Skepsis, die die Lingener im März 1933 noch gegenüber der NSDAP gezeigt hatten, war bei den Reichstagswahlen im November nicht mehr viel übrig geblieben. Zur Wahl stand nur noch eine von der NSDAP dominierte Einheitsliste. In Lingen erhielt sie eine Zustimmung von 92,6% (Reichsdurchschnitt 92,1%). Den zeitgleich zur Abstimmung vorgelegten Austritt aus dem Völkerbund befürworteten 94,4% (Reichsdurchschnitt 95,1%). Erst mit einer zunehmend repressiven Politik der Nationalsozialisten gegenüber der katholischen Kirche sanken die Zustimmungswerte im Kreis Lingen wieder. Tatsächlich war die Zustimmung der Lingener zum Nationalsozialismus wesentlich abhängig von dessen Verhältnis zum Katholizismus.

Gleichschaltung von Wirtschaft und Kultur

2. Gleichschaltung von Wirtschaft und Kultur

Als Staatsbetrieb schwenkte das Eisenbahnausbesserungswerk schnell auf den Kurs der Nationalsozialisten ein. Im Oktober 1933 mussten alle Arbeiter eine Erklärung unterschreiben, keinerlei Beziehungen zu KPD oder SPD zu pflegen. 1936 wurde eine Werkschar gegründet, bestehend aus SA-Mitgliedern, die innerhalb des Betriebes im Sinne des Nationalsozialismus wirken sollten. Wirtschaftlich erlebte das Werk nun einen starken Aufschwung, und die Belegschaft wuchs von 800 (1932) auf zeitweise über 1900. Preisverleihungen begleiteten den Aufstieg. Mehrfach erhielt das Werk das „Gaudiplom für hervorragende Leistungen“. 1941 wurde es als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet und erhielt die „Goldene Fahne“. Es war die höchste Auszeichnung, die ein Betrieb auf Reichsebene erhalten konnte.

1937 wurde eine neue Schiebebühnenhalle in Betrieb genommen. Das Bild an der Stirnwand der Halle zeigte die „Arbeiter der Stirn und Faust“, also Handwerker, Soldat, Bauer, Wissenschaftler und – als einzige Frauenrolle – die Mutter. Das Frauenbild der Nationalsozialisten brachte Bürgermeister Plesse bei einer Frauenkundgebung auf den Punkt: Die germanische Frau gehöre nicht in die Politik und auf die Straße, sondern in die Familie und zu den Kindern. In diesem Sinne formulierte die Werksleitung auch die „10 Pflichten der Eisenbahnerfrauen“. Sie sollten ihrem Mann ein „glückliches Heim“ bereiten, ihn am Abend „sauber, anmutig und in froher Laune“ empfangen, sich nicht mit ihm streiten und ihn trotzdem irgendwie zur „Mäßigkeit im Alkoholgenuß“ anhalten.

Die Gleichschaltung des Lingener Handwerks begann im April 1933. Ein Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes wurde gegründet. Dessen Leiter, der spätere Senator Rudolf Lippelt (NSDAP), erklärte, „daß in sämtlichen Innungen, Vereinen etc. die Vorstände gleichgeschaltet werden müssen.“ Fast alle Innungen schlossen sich dem Aufruf freiwillig an.

Der Kreisbauernverein begrüßte die neuen Machtverhältnisse. Im August 1933 wurde Emanuel Graf von Galen Kreisbauernführer. Von Galen, ein Cousin des Bischofs von Münster, war spätestens Anfang 1932 in die NSDAP eingetreten. Doch behielt er das Amt des Kreisbauernführers kaum einen Monat. Nach persönlichen Streitigkeiten wurde er abgesetzt und ging danach zunehmend auf Distanz zur Partei. Als er 1935 von illegalen Anglern darauf hingewiesen wurde, dass das „zweite Reich“ mit seinen adligen Privilegien vorbei sei, ließ er sich hinreißen zu einem „Ich sch… was auf das dritte Reich“. Plesse verfügte daraufhin seinen Parteiausschluss, wogegen sich von Galen vergeblich wehrte.

Das ursprünglich evangelisch und national geprägte Lingener Kreisblatt (ehemals Lingensches Wochenblatt) unter Wilhelm Pernutz war bereits 1932 auf einen nationalsozialistischen Kurs umgeschwenkt und polemisierte seitdem offen und aggressiv gegen politische Gegner. 1937 wurde es den NSDAP-nahen Vereinigten Zeitungsverlagen aus Osnabrück angegliedert, die das Pressewesen im Emsland mit ihren „Emsländischen Volksblättern“ zunehmend monopolisierten. Der Lingener Volksbote bemühte sich um Selbstanpassung und Kooperation mit den neuen Machthabern. Neben der üblichen Zentrumswerbung fand sich nun auch NS-Propaganda. Die opportunistische Strategie erwies sich jedoch als wenig erfolgreich. 1936 wurde Verleger van Acken von der Reichspressekammer ausgeschlossen. Auch der Volksbote ging schließlich in den „Emsländischen Volksblättern“ auf.

Die Lingener Schützenvereine sollten 1934 aufgelöst und in den Deutschen Schützenverband integriert werden. Einige Vereine weigerten sich jedoch. Und so konnten die Bürgerschützen 1938 ihr hundertjähriges Bestehen als selbständiger Verein feiern, unterstützt von Bürgermeister Plesse und einem Vertreter der Wehrmacht.

Von den Gleichschaltungsbestrebungen der Schützenvereine blieben die Kivelinge verschont. Sie verstanden sich primär als Heimatverein. Hinsichtlich Heimatstolz und Traditionsbewusstsein gab es also durchaus ideologische Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus. Die Kivelinge verstanden sich schnell als Vorkämpfer in der nationalen Sache und gaben sich betont patriotisch, nationalistisch und antiliberal. Ende 1936 legte der komplette Vorstand sein Amt nieder. Plesse, als Bürgermeister ohnehin Ehrenmitglied, sicherte sich das Recht, künftige Kommandanten berufen und absetzen zu können, und verkündete eine „enge Verbindung mit der Partei“ und die „Ausrichtung nach nationalsozialistischen Grundsätzen“. Neuer Kommandant wurde das SA-Mitglied Karl Berning, ein Neffe des Osnabrücker Bischofs.

Ebenfalls in der Heimatpflege aktiv war der Heimat- und Verkehrsverein. Die Gleichschaltung erfolgte freiwillig. Im März 1934 trat der Vorstand komplett zurück, und Plesse wurde erst Vorstandsmitglied, später auch Vereinsvorsitzender. Die Eröffnung des Kreisheimatmuseums im November bedeutete den Höhepunkt der bisherigen Vereinsarbeit. Museumsleiter wurde das NSDAP-Mitglied Friedrich Hilkenbach.

Nationalsozialismus und Katholizismus

3.  Nationalsozialismus und Katholizismus

Die Gleichschaltungsbestrebungen der Nationalsozialisten waren in Lingen wie im gesamten Emsland insbesondere von der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus geprägt. Ideologisch gab es durchaus Überschneidungen. Beide Weltanschauungen verstanden sich als Sittenwächter, waren antimarxistisch, antisozialistisch, antiliberal, antiparlamentaristisch und vaterländisch orientiert. Und nicht zuletzt zeigte sich der Katholizismus auch für antijüdisches Gedankengut offen, wie der Lingener Volksbote nach Errichtung der Synagoge jahrelang bewiesen hatte. Während das evangelische Vereinswesen jedoch nie eine größere Geschlossenheit erreicht hatte und sich vergleichsweise leicht in die sog. „Volksgemeinschaft“ der Nazis integrieren ließ, verfügten die Katholiken über ein starkes, gut vernetztes Vereinswesen, dass den einzelnen von der Wiege bis zur Bahre begleitete. Getauft von einem katholischen Pastor, besuchte das Kind den katholischen Kindergarten, dann die katholische Volkschule in der Castellstraße, schloss sich dem Katholischen Gesellenverein, dem Katholischen Lehrlingsverein oder, sofern Gymnasiast, dem Bund Neudeutschland an, gefolgt von dem Katholischen Arbeiterverein oder dem Katholischen Kaufmännischen Verein. Alternativ boten sich Mitgliedschaften in der Jungfrauenkongregation, dem Katholischen Deutschen Frauenbund und dem Katholischen Mütterverein an. Man wählte das Zentrum, las den Lingener Volksboten und die Bücher der Borromäus-Bücherei, war Mitglied im Volksverein für das katholische Deutschland, bisweilen auch im Kreuzbund, zahlte in die Begräbniskasse der katholischen Gemeinde Lingen ein und wurde schließlich von einem katholischen Pastor beerdigt. In gewissem Sinne waren die Katholiken organisatorisch genau da, wo die Nationalsozialisten mit ihrem Konzept der „Volksgemeinschaft“ hinwollten.

Die Konkurrenz war den neuen Machthabern durchaus bewusst. Für Gauleiter Röver gehörte der Kreis Lingen „zu den fünf weltanschaulich am schwierigsten zu bearbeitenden Kreisen“, und auch Bürgermeister Plesse sah in der katholischen Kirche seinen Hauptgegner. Genauso wie Plesse die Kirche nicht einfach verdrängen konnte, sondern taktieren und Zugeständnisse machen musste, versuchte die Kirche einen Mittelweg zu finden zwischen Anpassung und Positionswahrung. Die kirchliche Kritik im Emsland richtete sich dabei allein gegen den ideologischen Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus. Öffentliche Proteste etwa gegen den Boykott jüdischer Geschäfte, die Inhaftierung von Sozialisten oder die Errichtung der Emslandlager blieben anscheinend aus.

Die Zugeständnisse, die Hitler in seiner Regierungserklärung im März 1933 an die katholische Kirche machte, vermittelten den Katholiken das Gefühl, sich mit dem Nationalsozialismus arrangieren zu können. An den Feierlichkeiten zum 1. Mai beteiligten sich auch in Lingen weite Teile der Gesellschaft, und die Reden des Gerstener Pastors Niederschäfer und des lutherischen Pastors Illing aus Lingen, schließlich der Aufruf von Bischof Berning, die Kirchen mit Flaggen zu schmücken, demonstrierten kirchliche Akzeptanz. Der Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning war als gebürtiger Lingener eine wichtige Orientierungsfigur der Lingener Bevölkerung. Selbst zu einer konservativen, nationalistischen und autoritären Grundhaltung neigend, wandte er sich früh dem NS-Staat zu, wurde im Juli 1933 von Göring zum preußischen Staatsrat ernannt und trug so wesentlich zur Herrschaftsfestigung der Nationalsozialisten bei. Viele katholische Verbände schwenkten auf die Parteilinie ein. Die Lingener Kolpinggruppe versprach Hitler und Hindenburg treue Gefolgschaft und führte die Hakenkreuzfahne ein. Und Kaplan Lammen, Vorsitzender des kath. Arbeitervereins und des Gesellenvereins, gründete einen „Nationalen Katholischen Bund“ für Nationalsozialisten und Geistliche. Das im Juli 1933 zwischen Heiligem Stuhl und Deutschem Reich geschlossene Reichskonkordat schien die Katholiken vor der Gleichschaltung bewahren zu können, doch in der Folge mehrten sich konkordatswidrige Übergriffe und Gleichschaltungsversuche. Allmählich wurden die Grenzen einer Koexistenz deutlich. Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen in Lingen mit der sogenannten Blockhüttenaffäre, in der Hitlerjugend und Neues Deutschland aneinandergerieten.

Die Lingener Hitlerjugend war 1932 gegründet worden, fand zunächst aber nur wenig Zulauf. Nach Beitritt der Pfadfinderschaft Deutschland, des Evangelischen Jungvolks und schließlich der gesamten evangelischen Jugend existierten Ende 1933 neben HJ und BDM jedoch nur noch die unter Konkordatsschutz stehenden katholischen Jugendverbände.

Die Situation eskalierte im März und April 1935. Die Lingener Ortsgruppe des Neuen Deutschlands hatte sich bereits vor der Machtergreifung auf dem Gelände des Bauern Lübbers in Rheitlage jenseits der Ems eine Blockhütte errichtet. Im Sommer 1933 entging diese der Beschlagnahmung, indem der ND sie dem Bauern Lübbers schenkte. Mit Zustimmung des Bauern  wurde die Hütte aber auch von der HJ genutzt. Dem ND gefiel das gar nicht. Er bat Lübbers, die Blockhütte abreißen zu können, und der sagte zu. Da der Abriß jedoch unterblieb, übergab Lübbers sie im März 1935 der HJ. Offenbar in Unkenntnis darüber riss der ND die Hütte am 29. März ab. Die Reaktion war massiv. Bürgermeister Plesse rief zu einer Massenkundgebung der NSDAP auf und verkündete der zahlreich auf dem Marktplatz erschienenen Menge, „Spitzbuben“ hätten sich „in ihrem fanatischen Haß verleiten lassen, das Heim der Hitlerjugend zu zerschlagen“, und streute Gerüchte über angebliche Hintermänner. Einige NDler wurden stundenlang verhört, von der Gestapo in Schutzhaft genommen und der Schule verwiesen. Elternhäuser wurden durchsucht und von aufgehetzten Bürgern mit Steinen beworfen. Drei Lehrer wurden strafversetzt, weil sie sich für die NDler einsetzten. Wenig später musste auch Schuldirektor Hartmann gehen. Am 15. April schließlich wurde der Lingener ND wie alle anderen Ortsvereine seines Gaues verboten.

Die Bevölkerung trug die Reaktionen auf die Blockhüttenaffäre scheinbar mit, doch bei vielen regte sich auch Zweifel und Unmut. Deutlich wurde das einen Monat später. Für den 11. Mai 1935 kündigte Bischof Berning seinen Besuch in der Stadt an. Der Marktplatz sollte entsprechend geschmückt werden, doch der Besitzer der Marktapotheke, ein NSDAP-Mitglied, weigerte sich. Die Apotheke wurde daraufhin boykottiert und mußte letztlich schließen. Im August kam es zu einem weiteren Zwischenfall. Sechs Personen, unter ihnen der medizinische Leiter des Bonifatiushospitals Dr. Beckmann, hatten ein antikatholisches Plakat mit dem Titel „Deutsches Volk, horch auf“ abgerissen und wurden daraufhin von einem Schnellrichter verurteilt. Konfliktpotenzial bildeten auch die Fronleichnamsprozessionen. Strecken wurden verweigert, Teilnehmer belästigt, fotographiert und denunziert. Im Juni 1936 besuchte Bischof Berning das Strafgefangenenlager Aschendorfermoor. Auch er sah das NS-Regime inzwischen zunehmend kritisch, versuchte sich aber nach wie vor zu arrangieren. Und so rief er die Häftlinge zu Gehorsam und Treue gegen den Staat auf, lobte die Tätigkeit der SS-Wachmannschaften und verabschiedete sich mit einem dreifachen „Heil Hitler“.

Der Druck auf die katholischen Jugendverbände hatte sich derweil immer mehr erhöht. Im November 1935 wurde der Evangelischen Bürgerschule als erster Schule im Emsland die HJ-Fahne verliehen, weil über 90% ihrer Schüler in HJ und BDM organisiert waren. Im Dezember forderte Plesse von den Mitarbeitern der Stadt eine Begründung, falls ihre Kinder keiner NS-Organisation angehörten. Viele fürchteten nun um ihre Stellung, wenn ihre Kinder weiterhin fernblieben. Als die Hitlerjugend Ende 1936 per Gesetz zur alleinigen Jugendorganisation erklärt wurde, war ihr Totalitätsanspruch in Lingen bereits weitgehend erfüllt. Dem Bund Deutscher Mädel, dem weiblichen Zweig der HJ, fiel es hingegen deutlich schwerer, sich durchzusetzen. Erst 1933 gegründet und ohne größere Unterstützung seitens der Stadt konnte der Lingener BDM der Jungfrauenkongregation zunächst wenig entgegensetzen. Ihre vergleichsweise moderne Ausrichtung stieß in der konservativ-traditionalistischen Bevölkerung auf Ablehnung. Insbesondere dass die Mädchen dort Sport trieben, galt als Tabubruch.

Eine Schlüsselstellung im Konflikt zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus nahm das Schulwesen ein. Im April 1933 gründete sich eine Lingener Ortsgruppe des NS-Lehrerbundes, der bald zu einer faktischen Pflichtorganisation für alle Lehrer avancierte. Gemäß des Kreuzerlasses vom November 1936 sollten Kreuze und andere religiöse Bildnisse aus den Klassenzimmern verschwinden. Anders als in den kleineren Gemeinden des Kreises folgten in Lingen alle Schulen dem Erlass, teils widerwillig, aber ohne öffentlichen Protest.

Die Einführung der Gemeinschaftsschule bot neuen Konfliktstoff. Ziel der Nationalsozialisten war es, die konfessionellen Bekenntnisschulen durch überkonfessionelle Gemeinschaftsschulen zu ersetzen. Im April 1937 sprach sich Bischof Berning klar gegen die Gemeinschaftsschule aus. Der NS-Lehrerbund führte daraufhin eine Abstimmung unter den Lehrern durch. Das Georgianum stimmte für die Gemeinschaftsschule, die beiden katholischen Schulen aber – Hindenburgschule und Castellschule – dagegen. Die Ablehner wurden in der Gestapokartei registriert. Unter ihnen waren auch der Leiter der Castellschule Heinrich Brinkmann und die Leiterin der Höheren Töchterschule Clara Eylert. Beide wurden strafversetzt, beantragten stattdessen aber den vorzeitigen Ruhestand. Ihre Stellen wurden mit Nationalsozialisten wiederbesetzt.

Mit Beginn des Schuljahres 1938 wurde die Gemeinschaftsschule dann Realität. Mit dem Wechsel des Sportlehrers Wöbking zur Castellschule war damit erstmals ein lutherischer Lehrer an einer katholischen Volksschule tätig. Zahlreiche Kinder wurden nun neuen Schulen zugewiesen. Die ev. Volksschule wurde zur Mädchenschule und nannte sich fortan nach dem antisemitischen Schriftsteller Dietrich-Eckart-Schule.

Der Lehrerbund nahm nun verstärkt den Religionsunterricht in den Blick. Von einer Sitzung im November 1938 berichtet der neue Rektor der Castellschule: „Wir stellten fest, daß der Jude die treibende Kraft im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland ist, daß wir daher das jüdische Gedankengut der Bibel unseren Jungen nicht mehr bieten können und wollen.“ Kein halbes Jahr später war der evangelische Religionsunterricht bereits aus allen Lingener Volksschulen verschwunden. Widerspruch von katholischer Seite gab es durchaus. Doch er äußerte sich eher in einer situativen Widerspenstigkeit einzelner Personen als in einem organisierten Widerstand, wie ihn etwa die Lingener Kommunisten versucht hatten. Dort wo es Widerspruch gab, zielte er in der Regel lediglich auf die Wahrung der katholischen Eigenständigkeit.

Fest und Propaganda

4.  Fest und Propaganda

Die Lingener Schulchroniken zeigen, wie sich Schulalltag und Lehrinhalte bereits 1933 änderten. Die Schülerinnen und Schüler hörten Reden Hitlers im Radio, sangen das Horst-Wessel-Lied, gedachten des rechten Märtyrers Schlageter und des „Versailler Schmachfriedens“ oder sahen sich Filme wie „SA-Mann Brand“ an. Insbesondere an den Feierlichkeiten am 1. Mai 1933 nahmen die Schulen geschlossen teil.

Der als „Tag der nationalen Arbeit“ umgedeutete Erste Mai war das erste propagandistische Großereignis, das die Nationalsozialisten in Lingen veranstalteteten. Er fand mit breiter Unterstützung der Bevölkerung statt. Zahlreiche Lingener Vereine beteiligten sich. Reden wurden gehalten, erst von Pastor Niederschäfer aus Gersten, dann von Pastor Illing aus Lingen, der Gott dafür dankte, „daß er in der Stunde der Not uns einen Führer gab.“ Am späten Abend hielt Bürgermeister Plesse auf dem mit Feuer erleuchteten Marktplatz eine letzte Rede, bis die Veranstaltung mit Sieg-Heil-Rufen und dem Horst-Wessel-Lied schloss. Nicht wenige Lingener traten an diesem Tag in die NSDAP ein. Nur wenig später wurden landesweit die freien Gewerkschaften zerschlagen.

Ein wesentlicher und nicht zuletzt kriegsvorbereitender Aspekt nationalsozialistischer Propaganda war der Kult um die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Die Planungen zu einem Lingener Kriegerehrenmal reichen jedoch weit in die Weimarer Zeit zurück. Die offizielle Einweihung fand 1934 auf dem Alten Friedhof statt. In seiner Rede sah Bürgermeister Plesse „sich die Gefallenen des Weltkrieges und der S.A. die Hände“ reichen. Laut dem Lingener Volksboten sollte das Denkmal „nicht nur Erinnerungsmal“ sein, sondern auch „als stummer Mahner fragen: ‚Hast auch Du stets deine Pflicht getan für Dein Volk?‘“ Fortan wurde am Ehrenmal jährlich zum Heldengedenktag eine Gedächtnisveranstaltung abgehalten.

Keine zwei Jahre später wurde im Eisenbahnausbesserungswerk ein weiteres Kriegerehrenmal errichtet. Das betriebseigene Werkblatt sah in dem Denkmal eine „Mahnung zur Treue zu unserem Volke und Führer“. Hakenkreuzfahnen, Fahnen der Deutschen Arbeiterfront und des Eisenbahnvereins prägten das Erscheinungsbild der Einweihungsfeier. Auch dieses Kriegerehrenmal war fortan Schauplatz von Feierlichkeiten zum Heldengedenktag.

Auch sonst spiegelten sich die neuen Machtverhältnisse im Straßenbild wieder. Neben dem Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz stellte der Reichsluftschutzbund im Sommer 1934 die Nachbildung einer Fliegerbombe auf. Letztlich diente die Aktion der psychologischen Vorbereitung auf einen Luftkrieg. Auffällig war auch die Neubenennung von Straßen. Der Marktplatz etwa wurde in Adolf-Hitler-Platz umbenannt, die Große Straße in Hindenburgstraße und die Gelgöskenstiege in Horst-Wessel-Straße. Auch nach dem Rennfahrer Rosemeyer wurde eine Straße benannt. Anlässlich seines ersten Todestages beschloss Bürgermeister Plesse im Januar 1939 die Umbenennung der Bahnhofsstraße in Bernd-Rosemeyer-Straße. Sie ist die einzige Straße, deren Benennung 1945 nicht rückgängig gemacht wurde.

Bernd Rosemeyer entstammte einer katholisch-konservativen, aber technisch aufgeschlossenen Lingener Familie. Sein Vater war ein Cousin von Bischof Berning. Rosemeyer betätigte sich zunächst im Motorradsport. Dass er Mitglied im Lingener Motorradclub L.M.C. gewesen und dieser schließlich in die Motor-SA aufgegangen sei, lässt sich nur vermuten.  Jedenfalls ging Rosemeyer im August 1933 erstmals mit SA-Uniform und Hakenkreuzbinde an den Start, war also spätestens jetzt Mitglied der SA. Laut Führerstammkarte trat er am 1. November 1933 der SS bei. Der Beitritt erfolgte ohne Not und Zwang, sondern vielmehr wohl aus Opportunismus und politischem Desinteresse. Zur Ausübung des Motorsports hätte eine Mitgliedschaft etwa im NS-Kraftfahrerkorps gereicht.

Der Autorennsport wurde vom NS-Regime besonders gefördert. Hier bot sich die Gelegenheit, die technische Überlegenheit Deutschlands medienwirksam und unterhaltsam unter Beweis zu stellen. 1934 wechselte Rosemeyer Motorrad gegen Rennwagen und wurde in die Grand-Prix-Abteilung der Auto Union aufgenommen. 1936 heiratete er die bekannte Fliegerin Elly Beinhorn. Spätestens jetzt gehörte er zu den großen Stars der NS-Populärkultur. Infolge von Rennsiegen wurde Rosemeyer immer wieder befördert, zuletzt bekleidete er den Rang eines SS-Hauptsturmführers. Unter den Grand-Prix-Fahrern war er das einzige SS-Mitglied.

1937 gewann Rosemeyer den Vanderbilt-Pokal in New York. Es war sein bisher prestigeträchtigster Sieg. Wenige Tage später, am 17. Juli, besuchte er die Stadt Lingen. Der offizielle Empfang durch die Stadt fand um 18 Uhr im Rathaussaal statt. Zahlreiche Menschen waren auf den Marktplatz geströmt, und vor dem Rathaus hatten der NS-Kraftfahrerkorps und der Musikzug der SA-Standarte Aufstellung genommen. Im Kreise der Stadträte, Ratsherren sowie Vertretern der NSDAP überreichte Plesse Rosemeyer eine goldene Uhr und eine Ehrenurkunde, und der bedankte sich bewegt. Er habe sich, so zitiert ihn das Lingener Kreisblatt, „riesig gefreut, das schwere Rennen in Amerika für den Führer und somit für Deutschland siegreich beenden zu können“.

Kaum ein halbes Jahr später starb Rosemeyer bei einem Geschwindigkeitsrekordversuch mit einem ungetesteten Wagen. Mit seiner Beerdigung in Berlin begann ein von der Propaganda forcierter Rosemeyerkult. Victor Klemperer schrieb: „Der Nazismus hat alle Sportarten gepflegt (…) aber das einprägsamste und häufigste Bild des Heldentums liefert in der Mitte der dreißiger Jahre der Autorennfahrer: nach seinem Todessturz steht Bernd Rosemeyer eine Zeitlang fast gleichwertig hinter Horst Wessel vor den Augen der Volksphantasie.“

Antisemitismus und Holocaust

5. Antisemitismus und Holocaust

In der Endphase der Weimarer Republik wohnten in Lingen 14 jüdische Familien. Neben Kommunisten und Sozialdemokraten wurden sie zu den ersten Opfern des neuen Systems. Am 1. April 1933 wurde zum sogenannten „Judenboykott“ aufgerufen. Auch vor den Geschäften der Lingener Juden nahm die SA Aufstellung, bedrohte potenzielle Kunden und sorgte so für empfindliche Umsatzeinbußen. Die SA versammelte sich vor jüdischen Häusern und sang antisemitische Lieder, und in Schaukästen wurde antisemitische Propaganda verbreitet. Auch die jüdischen Schulkinder bekamen die Repressionen zu spüren. Sie mussten in der letzten Reihe sitzen, waren auf dem Schulhof isoliert oder wurden auf dem Schulweg beleidigt und angegriffen.

Mit der Reichspogromnacht begann die systematische Verfolgung der Juden. Zwischen ein und zwei Uhr wurde die Synagoge von der Lingener SA in Brand gesetzt. Gegen zwei Uhr wurde der Polizei ein Feuer in der Stadt angezeigt. Über den Brand informiert, rief Polizeimeister Schmeling Bürgermeister Plesse an. Doch der erklärte, alles Erforderliche bereits veranlasst zu haben. In den nächsten Stunden geschah jedoch nichts. Weder Schmeling noch Plesse informierten die Feuerwehr. Die SA riegelte das Gelände schließlich ab. Erst als einige SA-Leute gegen 6:00 Uhr mit einem schweren Stück Holz die Synagogentür aufstießen, ließ der Luftzug das Feuer um sich greifen. Jetzt etwa trafen die ersten Feuerwehrleute ein. Doch sie erhielten den Befehl, die Synagoge nicht zu löschen, und so beschränkten sie sich darauf, ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbarhäuser zu verhindern. Im Dienstprotokoll der Lingener Polizei vermeldete Wachtmeister Scheel „keine besonderen Vorkommnisse“. Über die Brandursache soll Bürgermeister Plesse bemerkt haben, die Juden hätten vermutlich die Gasheizung nicht richtig abgestellt.

Gegen 6 Uhr begann die SA, zum Teil mit Unterstützung der Polizei, mit der Verhaftung jüdischer Einwohner. Innerhalb von zwei Stunden wurden 19 Männer und Frauen festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht. Das Textilgeschäft Markreich in der Großen Straße, das letzte noch bestehende jüdische Geschäft in Lingen, wurde zerstört und geplündert. Im Laufe des Vormittags wurden die meisten Gefangenen wieder freigelassen. Sechs Gefangene aber – Bendix Grünberg, Hugo Hanauer, Wilhelm Heilbronn, Fredy Markreich, Neumann Okunski und Jacob Wolff – blieben inhaftiert. Sie wurden am nächsten Vormittag wurden von der SS abgeholt und in das KZ Buchenwald überführt. Nach Wochen, teils erst nach Monaten kehren sie abgemagert und kahlgeschoren nach Lingen zurück. Sie wurden nur unter der Bedingung entlassen, sofort ihre Ausreise zu betreiben. Der Synagogenvorsteher Jacob Wolff erholte sich von seinem KZ-Aufenthalt nicht mehr. Er starb 1941 und wurde an einer unbekannten Stelle auf dem Jüdischen Friedhof begraben.

Nach der Reichspogromnacht emigrierten immer mehr Juden ins Ausland. Auch zwei Drittel der Lingener Juden flüchtete. Der 15jährige Bernhard Grünberg und der 12jährige Theodor Körner fanden einen Platz bei einem Kindertransport nach England. Auch Theodors Mutter Erna Körner-Cohen siedelte nach England über. Mitglieder der beiden Familien Hanauer ließen sich auf Ibiza nieder oder flohen – wie auch Mitglieder der Familie ten Brink – in die USA. Doch nicht jede Flucht verlief erfolgreich. Die meisten Lingener Juden flüchteten nach Belgien und in die Niederlande. Beide Länder wurden 1940 von Deutschland besetzt. Viele Lingener und ehemalige Lingener wurden im niederländischen Durchgangslager Westerbork interniert und starben schließlich in Ausschwitz und Sobibor. Andere mit Zwischenstation im belgischen Sammellager Mechelen starben ebenfalls in Auschwitz. Gustav Hanauer überlebte. Er versteckte sich mit seiner niederländischen Frau Theresa in einer Erdhöhle auf einem niederländischen Bauernhof, während ihre Kinder Helga und Carla heimlich bei Ordensschwestern des Deldener Krankenhauses unterkommen sind.

1939 lebten noch 15 Juden in Lingen. Die meisten von ihnen wurden zusammen mit Glaubensgenossen aus den Nachbarorten in zwei sogenannten „Judenhäusern“ einquartiert.

Das Haus der Synagogenvorsteherwitwe Emma Wolff (Marienstraße 4) wurde im August 1939 als „Judenhaus“ eingerichtet. Das Haus der Familie Herz (Wilhelmstraße 21) folgte Anfang 1941, wurde kurz darauf aber wieder aufgelöst. Die Wohnverhältnisse waren sehr beengt, und es mangelte an Nahrung. Im Dezember 1941 wurden elf Bewohner des Wolff’schen Hauses von der Lingener Polizei nach Osnabrück gebracht, um von dort aus mit dem „Bielefelder Transport“ in das Ghetto Riga deportiert zu werden. Es waren Bendix Grünberg, Gerda  Grünberg, Marianne Grünberg-Valk, Caroline Heilbronn-Grünberg, Ruth Heilbronn und Wilhelm Heilbronn aus Lingen, Josef und Rosa Heilbronn aus Lengerich, Adolf und Johanna Fiebelmann aus Meppen sowie Simon Schwarz aus Freren. Eine zweite Gruppe  wurde im Juli 1942 über Münster in das Altersghetto Theresienstadt deportiert. Henriette Flatow, die mit ihren 76 Jahren bis zuletzt als Pfründnerin im Bonifatiushospital gelebt hatte, starb bald unter den unmenschlichen Lagerbedingungen. Nicht besser erging es Rosalie Baumgarten-Spiegel aus Meppen und Levi Sternberg aus Haren. Emma Wolff, Louise Bruchholder-Goldberg aus Meppen sowie Bela de Vries und ihre Tochter Minna aus Haren wurden später in Auschwitz, Sally de Vries in Buchenwald ermordet. Als letzte verließen die Eheleute Max und Johanne Hanauer im August 1942 die Marienstraße. Sie wurden zunächst in „Judenhäuser“ in Osnabrück und Bielefeld eingewiesen. Er fand schließlich in Theresienstadt, sie in Auschwitz den Tod.

Von den 21 aus Lingen deportierten Juden überlebte nur Ruth Heilbronn. Die 20-Jährige hatte sich dem Bielefelder Transport freiwillig angeschlossen, um bei ihren Eltern bleiben zu können. Im Ghetto Riga wurde ihr Vater Wilhelm wegen angeblichen Brotklauens vor ihren Augen erschossen. Ihre Mutter Caroline wurde Opfer der „Krebsbachaktion“, bei der alle Kinder und über 30jährigen ermordet wurden. Danach wurde Ruth Heilbronn in das KZ Stutthof verlegt. Sie erinnerte sich später an „die Schikanen der SS-Bewacherinnen, die ihre Schäferhunde auf uns hetzten, die stundenlangen Appelle, die unzureichende KZ-Kleidung, de[n] ständige[n] Hunger und de[n] Mangel an Waschmöglichkeiten.“ Im Januar 1945 begann für sie der Transport nach Westen. Als sie im März 1945 bei Lauenburg von russischen Truppen befreit wurde, wog sie noch 40 Kilogramm. Sie kehrte nach Lingen zurück, heiratete einen polnischen Arzt und emigrierte mit ihm nach London. 1993 erhielt Ruth Foster-Heilbronn zusammen mit Bernhard Grünberg die Ehrenbürgerwürde der Stadt Lingen.

Zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten auch Sinti und Roma. Sie kamen insbesondere anlässlich der wiederkehrenden Pferdemärkte in die Stadt. Der Lingener Landrat forderte im Juli 1938, Roma den Durchzug durch den Kreis Lingen zu verbieten. Er begründete dies mit der angeblichen Verbreitung von Viehseuchen und der Gefahr von Spionage. Schließlich eigne sich „der Zigeuner (…) besonders zum Spion, da er ein verschlagener Naturmensch“ sei. Der Regierungspräsident lehnte seine Forderung jedoch ab. Parallel zur Shoa fand auch der Porajmos, der Völkermord an den europäischen Roma statt. Deportationen aus Lingen sind nicht bekannt, doch befand sich eine in Lingen geborene Romni unter den Opfern. Hedwig Schmidt hatte 1891 in der Lingener Strafanstalt das Licht der Welt erblickt. Am 3. November 1943 – inzwischen führte sie den Namen Schmidt-Franz – starb sie im sogenannten „Zigeunerlager“ von Auschwitz.

Der Zweite Weltkrieg

6. Der Zweite Weltkrieg

Ein wesentlicher Bestandteil nationalsozialistischer Politik war die letztlich kriegsvorbereitende Aufrüstung der Wehrmacht. Im ganzen Reich wurden neue Militärbauten errichtet. Nachdem das Reichswehrministerium beschlossen hatte, Lingen mit einem Infanteriebattaillon und einer Artillerieabteilung zu belegen, schlossen Stadt und Heeresverwaltung im Mai 1934 einen Garnisonsvertrag. Die Stadt verpflichtete sich dabei zur Übergabe von 21 Hektar Land in Reuschberge. Rund drei Viertel des Landes befand sich allerdings gar nicht in städtischen Besitz. Die Stadt musste es erst von dem durchaus nicht verkaufsbereiten Grafen Emanuel von Galen erwerben – und verstieß damit prompt gegen ein entsprechendes Verbot des preußischen Innenministeriums. Im August begannen die Bauplanungen. Täglich waren bis zu 500 Arbeiter an den Bauarbeiten beschäftigt. Viele Lingener Handwerksbetriebe beteiligten sich, aber auch Arbeitslose wurden herangezogen.

Das 1. Bataillon des Infanterie-Regiments Nr. 37 (Osnabrück) war bereits im Oktober 1934 in der Stadt eingetroffen. Es musste in Behelftsunterkünften untergebracht werden und siedelte erst später auf das Kasernengelände über. Tatsächlich handelte es sich um zwei lediglich durch einen Drahtzaun voneinander getrennte Kasernen. Das Infanterie-Bataillon übernahm die Walter-Flex-Kaserne, benannt nach dem völkisch-nationalistischen Kriegsdichter Flex. Die 1. Abteilung des Artillerieregiments Nr. 6 (Minden) bezog am 3. Oktober 1935 – dem Tage der offiziellen Einweihung – die Scharnhorstkaserne, benannt nach dem preußischen Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst.

Die Stadt hatte inzwischen bemerkt, dass sie sich in eine missliche Lage manövriert hatte. Denn während sie sich im Garnisonsvertrag verpflichtet hatte, das Gelände frei von Rechten Dritter zu übergeben, hatte sie dem Grafen von Galen dort Wegerechte zugesichert. Dadurch verzögerte sich die Übergabe. Graf von Galen war noch nicht ausbezahlt, als das Gelände längst bebaut war, und die Standortverwaltung musste die Stadt wiederholt auffordern, ihnen das Gelände endlich zu übereignen. Die Wehrmacht bemühte sich derweil um Bürgernähe. Alljährlich wurden ein „Tag der Wehrmacht“ und ein Militärsportfest durchgeführt und die Militärbadeanstalt durfte auch von Lingener Sportvereinen genutzt werden.

Der Zweite Weltkrieg begann in Europa am 1. September 1939. Unter einem Vorwand überfiel Deutschland Polen. Bald waren die Kasernen überfüllt, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Schließlich zogen rund 3000 Mann des Infanterieregiments 37 von Lingen aus zum Westwall. Denselben Weg nahm auch die Lingener Artillerieabteilung. In Lingen verblieben lediglich einige Ausbildungseinheiten. Über die Stimmung in der Bevölkerung berichtet die Chronik der Castellschule: „Der Kriegszustand wurde von uns viel nüchterner und sachlicher als 1914 aufgenommen. Eine Kriegsbegeisterung war nirgends festzustellen.“ Im Mai 1940 nannte Landrat Becker die Stimmung ruhig und zuversichtlich.

Der Alltag passte sich den Kriegserfordernissen schnell an. Noch am ersten Kriegstag wurden in Lingen Lebensmittelkarten eingeführt, wenig später folgte die Kleiderkarte. Schülerinnen und Schüler halfen bei der Ernte und sammelten Flaschen, Kastanien oder Metall. Um Leder zu sparen, sollten sie möglichst nur noch Holzschuhe tragen. Beim BDM und im NS-Frauenschaftsheim wurden Strümpfe für die Soldaten gestrickt, Decken für die Lazarette genäht und Feldpostpakete gepackt, und für die mit dem Zug durchfahrenden Soldaten wurden Butterbrote geschmiert. Bald erreichten die ersten Gefallenenmeldungen die Heimat. Immer wieder berichteten die Schüler von gefallenen Brüdern und Vätern.

Mit der Einrichtung eines Wehrmachts-Lazaretts wurde bereits acht Tage vor Kriegsausbruch begonnen. Ihren Sitz nahm die Lazarettverwaltung im ehemaligen Gesellenhaus, das nach der Auflösung des Kolpingvereins beschlagnahmt worden war. Teillazarette wurden in der Gewerbeschule am Pferdemarkt und der Hindenburgschule eingerichtet. Außerdem musste das Bonifatiushospital Betten zur Verfügung stellen. Zwischenzeitlich kamen weitere Stationen hinzu. Neben diesen Lazaretten für die eigenen Soldaten unterhielt die Wehrmacht außerdem Lazarette für Kriegsgefangene im Strafgefängnis an der Kaiserstraße und in der Hüttenplatzschule. Die ersten Kriegsmonate blieben die Lingener Lazarette allerdings leer. Erst im Mai 1940, als deutsche Truppen in die Niederlande einmarschierten, erreichten die ersten deutschen Verwundeten die Stadt.

Erste Anzeichen für einen drohenden Überfall auf die Niederlande hatte es bereits im Dezember 1939 gegeben, als ein Zug mit Eisenbahn-Artillerie am Bahnhof entladen wurde. Im Januar 1940 erreichten weitere Soldaten die Stadt. Im Februar machte eine Kavallerieschwadron mit 150 Pferden kurzzeitig auf dem Alten Pferdemarkt halt. Die Zahl der Truppentransporte nahm nun massiv zu. Am Tag des Überfalls zogen Fußkolonnen, Pferdegespanne, Artillerie und Panzer in langen Karawanen durch die Straßen. Zahlreiche Flugzeuge flogen über die Stadt hinweg. Danach waren alle Soldaten innerhalb eines Tages wieder verschwunden.

Das Eisenbahnausbesserungswerk reagierte auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, indem es zwei Schilder mit der Aufschrift „Wir kapitulieren nie!“ an die Außenwände aufhängen ließ. Die Belegschaft hatte sich seit 1933 fast verdoppelt. Jetzt, in Kriegszeiten, kam dem Werk eine überragende Bedeutung zu. An etlichen Sonn- und Feiertagen wurden sogenannte „Panzerschichten“ eingelegt und die dabei verdienten Löhne gespendet. Man arbeitete an Panzerzügen und Lazarettwagen, im weiteren Kriegsverlauf auch an Loks aus Polen, Frankreich und Belgien. Im November 1942 erfolgte die Anordnung, alle osteinsatzfähigen Kräfte und mehrere Wagen mit Werkstattausrüstung in das Ausbesserungswerk Saporoshje (Ukraine) zu überführen. Die Stadt war ein Jahr zuvor von der Wehrmacht erobert worden. Die gesamte Lokabteilung mit fast 250 Mitarbeitern und der größte Teil der Fertigausrüstung wurden auf Züge verladen und brachen noch im selben Monat Richtung Ostfront auf. Nach der Schlacht von Stalingrad geriet die Wehrmacht zunehmend in die Defensive. Im Oktober 1943 wurde das Ausbesserungswerk Saporoshje wieder geräumt und die Stadt zurückerobert. Das Eisenbahnausbesserungswerk war nicht die einzige Fabrik, die für die Kriegsführung von unmittelbarer Bedeutung war. Die Osnabrücker Munitionsfabrik „Teutowerk“ unterhielt während des Krieges in Lingen eine Filiale. Unter dem Fabrikleiter Fabian überprüften hier fast hundert Frauen und Mädchen Geschosshülsen auf Fabrikationsfehler.

Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter

7. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter

Schon seit dem Herbst 1939 befanden sich im Emsland Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter im Arbeitseinsatz. Die meisten Kriegsgefangenen arbeiteten in der Landwirtschaft. Aber auch bei Lingener Geschäftsleuten und etwa im Bonifatiushospital waren Zwangsarbeiter beschäftigt. Der mit Abstand größte Profiteur von Zwangsarbeit im Lingener Raum war allerdings das Eisenbahnausbesserungswerk. 1944 waren hier über 500 Zwangsarbeiter im Einsatz, fast ein Drittel der gesamten Belegschaft. Es waren Kriegsgefangene und Fremdarbeiter aus Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien und der Sowjetunion. Sie kamen zumindest zum Teil aus den Emslandlagern und ersetzten in großem Umfang die zu anderen Standorten abkommandierten Teile des Stammpersonals.

Mehrfach kam es zu Fluchtversuchen. Zwei Krimtataren wurden für ihren Versuch verprügelt und bekamen die Essensrationen gekürzt. Sieben Zwangsarbeiter wurden für mehrere Wochen in das Arbeitserziehungslager Ohrbeck bei Osnabrück eingeliefert. Bei Fliegeralarm fanden die Zwangsarbeiter anfangs in den selben Bunkern Schutz wie die deutsche Belegschaft. Als diese gegen Kriegsende jedoch zunehmend auch von benachbarten Einwohnern in Anspruch genommen wurden, verwies man die Ostarbeiter auf nahegelegene Waldgebiete. Grundsätzlich war der Einsatz im Ausbesserungswerk zwar nicht lebensgefährlich, aber entbehrungsreich und diskriminierend.

Die zivilen Zwangsarbeiter des Ausbesserungswerkes waren vor allem in den vom Werk selbst getragenen Lagern Telgenkamp und Greis untergebracht. Das Lager an der Greis’schen Mühle (Rheiner Straße 17), auch „Holländerlager“ genannt, war nur 200 Meter vom Ausbesserungswerk entfernt. Es wurde zunächst  mit Niederländern und Belgiern belegt, später auch mit Ostarbeitern und Italienern aus den Emslandlagern. Ihre Situation war vergleichsweise gut. Das Lager war nicht umzäunt und wurde lediglich von zwei Zivilisten bewacht.

Das Lager Telgenkamp hingegen wurde als Doppellager für Ost- und Westarbeiter errichtet und mit bis zu 400 Menschen belegt. Ost- und Westarbeiter waren streng vonenander getrennt. Während die Baracken der Westarbeiter freilagen, war das Ostarbeiterlager von Stacheldraht umschlossen und wurde von einer bewaffneten Wache kontrolliert. Auch bekamen die Westarbeiter eigenes Essen und Heimaturlaub. Für die Ostarbeiter herrschten strengere Verhältnisse. Die Insassen beklagten den ständigen Hunger und das schlechte Essen. Bestrafungen durch Schläge mit der Faust oder Gummiknüppeln waren offenbar nicht unüblich. Die Ungleichbehandlung ließ einen intensiven, von der Gestapo verfolgten Tausch- und Schwarzhandel zwischen beiden Lagerhälften entstehen. Weitere Lager befanden sich unter anderem am Schneewall und in der Turnhalle der Reichsbahn.

Die größten Kriegsgefangenenlager im Emsland waren die Emslandlager. Ursprünglich für Justizhäftinge eingerichtet, wurde bereits im September 1939 die Internierung von 16.000 Kriegsgefangenen beschlossen. Schließlich waren es fast 49.000 Menschen, die meisten aus der Sowjetunion, die hier unter harten Arbeitsbedingungen und schwerem Hunger litten.  Zwischen 15.000 und 26.000 sowjetische Kriegsgefangene verhungerten oder starben an Seuchen. Lingens Verbindungen zu den Emslandlagern sich vielfältig. Dabei sticht insbesondere das Lingener Strafgefängnis unter Direktor Flöther hervor. Dem Beauftragten des Reichsjustizministeriums für die Emslandlager war zugleich auch die Lingener Strafanstalt unterstellt. Und bei der Verlegung von Strafgefangenen in die Lager oder von den Lagern weg diente die Strafanstalt häufig als Zwischenstation.

Neben Kriegsgefangenen wurden im Lager Esterwegen auch Nacht- und Nebel-Gefangene interniert. Zu ihnen gehörte auch eine kleine Widerstandsgruppe namens „Schwarze Hand“. Sie hatte sich im belgischen Dorf Puurs gebildet, antideutsche Flugblätter hergestellt und Schwarze Listen über Kollaborateure angelegt. Im September 1941 flog die „Zwarte Hand“ mit ihren 112 Mitgliedern auf. Mitte 1943 wurden sie nach Esterwegen verlegt. Zwölf von ihnen waren bereits zum Tode verurteilt. Wer die Hinrichtungen durchführen sollte, war zunächst umstritten. Bataillonskommandeur Schilling, Wehrmachtsdienststelle Lingen, verweigerte zunächst die Abstellung eines Exekutionskommandos, leistete dem Befehl dann aber doch Folge. Am Morgen des 7. Augusts wurden zwölf Verurteilte an den Händen gefesselt und mit je zwei Bewachern in das Lingener Justizgefängnis gefahren. Dort wurden sie in Einzelzellen gesperrt, und der Staatsanwalt verlas ihnen das Todesurteil. Gut eine Stunde später wurden die zwölf Gefangenen auf den Wehrmachtsschießplatz bei Schepsdorf gefahren. Um etwa 8 Uhr morgens wurden in drei Gruppen je vier Männer gleichzeitig erschossen. Der älteste war 48, der jüngste 20 Jahre alt. Die Hinrichtungen blieben geheim. Ihre Angehörigen wurden nicht informiert.

Etwa ein Jahr später wurden auf dem Schießplatz bei Schepsdorf erneut  Hinrichtungen vorgenommen. In Reaktion auf die Ermordung eines Ortsgruppenleiters der Volksdeutschen Bewegung durch zwei Deserteure im luxemburgischen Junglinster befahl der Reichsführer der SS Heinrich Himmler, zehn luxemburgische wegen Fahnenflucht verurteilte Zuchthausinsassen als Geiseln hinzurichten. Drei Geiseln wurden am 23. August in Siegburg hingerichtet. Sieben weitere wählte die Leitung des Lagers Börgermoor unter ihren Gefangenen aus und überführte sie in das Lingener Justizgefängnis. Auch sie sollten am 23. August hingerichtet werden, doch auch hier weigerte sich die Wehrmacht in Lingen zunächst, ein Exekutionskommando zu stellen. Deshalb erfolgt die Hinrichtung erst am nächsten Tag. Sie wurden noch vor Tagesanbruch auf dem Neuen Friedhof begraben.

Zur Abwehr der vorrückenden Westalliierten wurde ab September 1944 die sogenannte Emsstellung errichtet, ein weitläufiges System von Panzergräben westlich der Ems. Ein Teil der Emsstellung wurde im Raum Elbergen tatsächlich realisiert. Das Unternehmen erfordete einen enormen Arbeitsaufwand. Zu den Schanzarbeiten wurden Volkssturmleute verpflichtet, aber auch die Zivilbevölkerung. Vor allem aber kamen niederländische Zwangsarbeiter zum Einsatz. Viele waren bei Razzien in den Niederlanden wahllos aufgegriffen worden und wurden nun unter schlechten hygienischen Bedingungen untergebracht. Die beiden Kasernen übernahmen die nur dürftige Ernährung. Einige Zwangsarbeiter starben. Die Emsstellung war militärisch weitestgehend nutzlos. Die Arbeiten wurden bereits im Dezember wieder eingestellt. Als die Alliierten das Emsland erreichten, blieben die Stellungen unbesetzt.

Bomben auf Lingen

8. Bomben auf Lingen

Lingen befand sich an der sogenannten „Friedrichsstraße“, der Einflugschneise der von England kommenden alliierten Flieger. Entsprechend häufig kam es in Lingen zu Überflügen. Flakstellungen zur Abwehr feindlicher Luftangriffe befanden sich an verschiedenen Stellen der Stadt. Im Laufe des Krieges wurden sie immer häufiger mit zivilen Flakwehrmännern und Oberschülern besetzt. Am 4. September 1939 gaben die Sirenen erstmals Fliegeralarm, doch statt Bomben warfen die britischen Flieger nur einige Flugblätter ab.

Durch die stetig zunehmenden Überflüge fand ein geregelter Schulunterricht bald kaum noch statt. Im Herbst 1940 wurde fast täglich Luftalarm gegeben, und in der Folge setzte sich diese Tendenz fort. Die Alarmpfeife des Ausbesserungswerkes gehörte bald zum Lingener Alltag. Der Chronist der Castellschule vermerkte: „Wir haben uns an den Fliegeralarm gewöhnt.“ Der erste größere Bombenangriff geschah im Oktober 1942. Sprengbomben und Phosphorbomben richteten Schäden in der Haselünnerstraße, dem Brockhauserweg, im Ausbesserungswerk und auf den Bahngleisen an. Zwei Menschen starben. Weitere Angriffe folgten.

Den schwersten Luftangriff seiner Geschichte erlebte Lingen am 21. Februar 1944. Es waren amerikanischer Bomber, die von einem verhinderten Angriff auf Braunschweig zurückkehrten. Zwischen halb drei und drei Uhr bombardierten sie das westliche Stadtgebiet und das Ausbesserungswerk. 140 Häuser wurden schwer beschädigt oder vollständig zerstört. Licht, Gas und Wasser fielen aus. Bis spät in die Nacht waren die Ersthelfer im Einsatz. Lazaretthelferinnen zogen mit Jutesäcken durch die zerbombten Gebiete und sammelten die Leichenteile ein. 42 Menschen starben, 38 erlitten schwere Verwundungen. Unter den Toten war auch Altbürgermeister Meier.

Am 21. November erfolgte der zweite schwere Luftangriff. Nachdem bereits am Vormittag amerikanische und deutsche Flugzeuge über Lingen aneinandergeraten waren, wurde die Stadt um etwa halb eins mittags erneut bombardiert. Wieder war das Ziel das Ausbesserungswerk. Betroffen waren aber auch das Strootgebiet, die Rheiner Straße und vor allem Darme. Die Aufräum- und Bergungsarbeiten wurden durch Zeitzünderbomben immer wieder unterbrochen. 23 Menschen starben.

Das Ende des Krieges

9. Das Ende des Krieges

Mit der Invasion in der Normandie im Juni 1944 errichteten die Westalliierten endlich die der Sowjetunion seit Jahren versprochene Westfront. Die Preise stiegen im Laufe des Jahres rasant, mehrfach wurden die Lebensmittelrationen gekürzt, und Tauschhandel breitete sich aus. Die Luftangriffe auf Lingen setzten sich derweil fort. Dennoch blieb Lingen das Ziel von Flüchtlingen. Zu Hunderten kamen sie aus Bremen, Oldenburg, Köln und insbesondere aus Ostpreußen.

Im März 1945 spitzte sich die Situation zu. Alliierte Truppen überschritten den Rhein und zogen schnell nach Norden durch die Niederlande. Das Ziel war, über Lingen nach Bremen vorzustoßen. In Lingen herrschte nun eine gespannte Stimmung. Tagelang strömten deutsche Soldaten auf dem Rückzug durch Lingen, führten halb verhungerte Pferde mit sich und baten um Essen. Es galt der Befehl, Lingen militärisch zu verteidigen. Notdürftig wurden Kampfverbände zusammengestellt und Flakgeschütze geholt, um die Brücken zu verteidigen. Panzersperren wurden errichtet. Ämter und Behörden räumten ihre Büros, in den Straßen wurden Unterlagen verbrannt. Auch im Hof des Braunen Hauses (Marienstraße 10), das die Kreisleitung der NSDAP und weitere NS-Organisationen beherbergte, brannten am Ostersonntag die Akten. Führende Nazifunktionäre wie Landrat Paul Wege, Kreisleiter Walter Brummerloh oder Plesses Nachfolger als Bürgermeister van der Brelie flohen aus der Stadt.

Am Ostermontag nahmen die Briten Nordhorn ein und rückten bis nach Schepsdorf vor. Am Morgen des Osterdienstag wurde die Schepsdorfer Brücke deshalb von den Deutschen gesprengt. Weitere Brücken folgten. Der nun gegebene Feindalarm war das allgemeine Zeichen zum Aufbruch. Die Menschen zogen in Scharen aus Lingen, die Verantwortlichen der Stadt zogen sich nach Baccum zurück, ein Räumungszug des Ausbesserungswerkes verließ die Stadt Richtung Oldenburg und auch die Kasernen wurden eilig geräumt. Im weiteren Verlauf des Tages erreichte ein 500 Mann starkes Bataillon unter Hauptmann Schewe die Stadt. Der Kampfkommandant übertrug ihm umgehend das alleinige Kommando und setzte sich ebenfalls aus Lingen ab. Schewe jedoch war ortsunkundig und bemühte sich vergeblich um die Kontaktaufnahme anderer Truppenteile. Die Briten setzten währenddessen bei Wachendorf über die Ems, nachdem die Sprengung der dortigen Brücke mißglückt war. Die zwischen Ems und Kanal gelegenen Kasernen, von den Engländern zunächst als Kläranlage interpretiert, waren bald besetzt. Dann überquerten die Briten mit Notbrücken den Kanal. So konnten am Mittwoch nach Ostern die ersten britischen Fußtruppen und Panzer in die Stadt eindringen.

Die Briten sammelten sich in der Meppener Straße und bewegten sich von dort Richtung Innenstadt. Gegen Mittag besetzten sie das Krankenhaus. Auf dem Marktplatz und in der Lookenstraße trafen sie auf den härtesten Widerstand. Es kam zum Häuserkampf. Die Deutschen schossen aus Kellern und Fenstern und drangen immer wieder in bereits eroberte Gebiete vor. Mit einem derartigen Widerstand hatten die Briten nicht gerechnet. Erst am nächsten Morgen konnten sie den Kampf für sich entscheiden. Gegen Mittag gelang es ihnen, den Gefechtsstand von Hauptmann Schewe (Jakob-Wolff-Platz 1) einzunehmen, der daraufhin kapitulierte. Im Laufe des Nachmittags wurden die letzten deutschen Widerstandsnester niedergeschlagen. Am Abend schließlich war auch die Bahnlinie fest in britischer Hand.

Die meisten Lingener waren bei Verwandten oder Freunden in den benachbarten Orten untergekommen. Sie kehrten am Wochenende in die Stadt zurück. Fast alle fanden ihre Wohnung verwüstet vor. Überall in der Stadt brannte es. Und auch die Strom-, Gas- und Wasserversorgung war zusammengebrochen. Die Pastoren Kruse und Hilling zogen mit einem Totengräber durch die Stadt, um die Leichen zu bergen. Auch tote Pferde lagen überall in den Straßen herum.

Es kam zu Diebstählen, Plünderungen und Vergewaltigungen. Immer wieder gab es Tote und Verletzte durch explodierende Minen und herumliegende Munition. Ein englischer Bericht erwähnte „viele weinende Zivilisten“ und „eine Menge weißer Flaggen“. Bei den Gefechten in Lingen fanden 118 deutsche Soldaten und 27 Zivilisten den Tod, zahlreiche Menschen wurden verwundet. Der Widerstand der deutschen Truppen im strategisch wichtigen Lingen war letztlich sinnlos. Er verzögerte den britischen Vormarsch um lediglich zwei bis drei Tage.

Schon früh begann eine Einheit der britischen Militärregierung damit, die Ordnung wiederherzustellen. Sie richtete ihr Hauptquartier in der Färberei Ubl am Markt (Nr. 9/10) ein, verkündete eine Ausgangssperre und bereitete erste Personalentscheidungen vor. Da alle führenden Personen aus Lingen geflohen waren, war es zunächst schwierig, das Amt des Bürgermeisters zu besetzten. Schließlich wurde das ehemalige Zentrummitglied Clemens Brackmann ernannt. Neuer Landrat wurde das ehemalige NSDAP-Mitglied Graf von Galen. Der in die Stadt zurückgekehrte Bürgermeister van der Brelie wurde umgehend seines Amtes enthoben, der frühere Landrat Wege wurde verhaftet. Damit nahm die – zunächst auf leitende Personen beschränkte – Entnazifizierung ihren Anfang.

Das drängendste Problem war zunächst allerdings, den Zugang zu Brot und Trinkwasser zu gewährleisten. Für Brot musste man anfangs bis zu vier Stunden anstehen. Schrittweise wurde die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas wiederhergestellt. Requirierungen wurden durchgeführt, Häuser beschlagnahmt und Männer zum Arbeitsdienst eingeteilt, um die Straßen von Schutt zu befreien. Da Deutschland noch nicht kapituliert hatte, wurde der Alltag außerdem von zahlreichen Anordnungen und Verboten reguliert. Auch die Unterbringung der Displaced Persons, der befreiten ausländischen Zivil- und Zwangsarbeiter, wurde früh als zentrales Problem erkannt. Die Displaced Persons wurden zunächst in ihren Lagern registriert und dann in die als zentrales DP-Auffanglager eingerichtete Artillerie-Kaserne übergesiedelt. Im Laufe des Monats stieg ihre Zahl dort auf über 2000.

Im Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Für Europa war der Zweite Weltkrieg damit zu Ende. Es sollte jedoch noch Jahre dauern, bis die schlimmsten Kriegsschäden beseitigt waren und sich das Leben wieder normalisierte



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