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Archivalie – September 2018

Sinti und Roma in Lingen (Teil 1)

Edikt Friedrich Wilhelms I. gegen „Zigeuner“ vom 5. Oktober 1725.

Ursprünglich wohl in Indien beheimatet, erreichten die ersten Roma im frühen 15. Jahrhundert Mitteleuropa. Sie gehörten zur Teilgruppe der (erst später so genannten) Sinti, die noch heute die größte in Deutschland beheimatete Romagruppe bilden. 1407 wurden sie in Hildesheim erwähnt, 1420 in Deventer, 1435 in Osnabrück. Im Emsland lassen sich Roma erst mit dem beginnenden 18. Jahrhundert belegen. In emsländischen Kirchenbüchern erscheinen sie ab 1713 als „Aegyptiani“, „Cyngari“, „Ziehani“, „Zigener“ oder schlicht als „Heyden“. Die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ ist unbekannten, vermutlich aber griechischen Ursprungs. 1721 wurde auf dem Meppener Marktplatz ein neuer Pranger errichtet, und zwar vornehmlich, um die sich dort aufhaltenden „Heyden“ zu strafen.

1725 erließ Friedrich Wilhelm I. ein Edikt wonach „die Zigeuner, so im Lande betreten werden, und 18 Jahr und darüber alt seyn, ohne Gnade mit dem Galgen bestraffet und die Kinder in Waysen-Häuser gebracht werden sollen.“ Ziel des Edikts war, „daß dieses ruch- und gottlose, auch nur vom Raub und Stehlen sich ernehrende Zigeuner-Gesindel mit Stumpff und Stiehl gäntzlich aus allen Unseren Landen vertilget und ausgerottet werde“. Auch die Moderatoren der Lingener Classis, ein Zusammenschluss der reformierten Prediger der Grafschaft Lingen, erhielten einen Druck des Edikts, verbunden mit der Auflage, es durch die Prediger von der Kanzel verlesen zu lassen. Ähnlich verfuhr man bei einem weiteren königlichen Edikt von 1739, das gegen „Ziegeuner, Land-Streicher und im Lande herum vagirende frembde Bettler“ gerichtet war.

Ebenfalls 1725 erhielt der „Commissaire en Chef“ der Grafschaft Lingen, Thomas Ernst Danckelmann, Instruktionen zur „Visitation und Aufhebung von Diebes-Rotten, Bettler und Zigeuner oder andern liederlichen Gesindels in Städten und auf dem Lande“. „Zigeuner“ sollten demnach in Arrest genommen werden, bis weitere Anweisungen folgten. Fortan fanden auch in Lingen regelmäßig „Generalvisitationen“ statt, bei denen man von Haus zu Haus ging und insbesondere Gaststätten durchsuchte. Opfer einer solchen Visitation wurde vermutlich auch ein „Zigeunerkind“, das 1730 im Lingener Gefängnis starb. Johann Bernhard Hüllesheim, Medizinprofessor an der Hohen Schule zu Lingen, erbat die Leiche des Kindes für sich und sezierte sie mehrere Wochen lang öffentlich. Es scheint seine einzige Obduktion in über zwanzig Jahren gewesen zu sein. Die Umsetzung der königlichen Instruktionen stieß an ihre Grenzen, als im Juni 1739 mehrere „Zigeuner und Vagabonden“ die Lingensche Grenze überquerten und sich fortan im Lande aufhielten. Auf Nachfrage bestätigte der Lingener Magistrat ihre Anwesenheit. Man habe selbst „einig zusammen gerottetes Zigeunerpack und liederliches Gesindel“ gesehen und wisse insbesondere, dass „die sogenanten Heiden oder Zigeuner“ „noch neulig vor der Pforte des Gutes Spieck“ gewesen seien. Jedoch habe der Magistrat „keine Hülffe oder starcke Hand“ finden können, um die „Bösewichter“ zu ergreifen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangte der Lingener Viehmarkt überregionale Bedeutung. Insbesonderre der Pferdemarkt, der zunächst auf dem Marktplatz und in der Castellstraße, ab 1901 dann auf einem eigenen Grundstück in der Burgstraße abgehalten wurde, zog immer wieder auch im Pferdehandel aktive Sinti und Roma an. Zu dem jeden zweiten Donnerstag stattfindenden Pferdemarkt reisten sie gewöhnlich schon am Mittwoch Nachmittag an. Sie kamen meist mit sechs oder sieben Wohnwagen, gezogen von Pferden oder Ponys und mit den zu verkaufenden Pferden im Schlepptau. Sie schlugen ihr Lager auf der Bleiche nahe des Alten Friedhofs auf oder in Darme am Weg zum heutigen Heimathaus. Der Lagerplatz in Darme war insofern günstig gelegen, als dass viele Händler ihr Vieh auf nahegelegenen Wiesen weiden ließen. Am nächsten Morgen zogen die Roma dann mit ihren Pferden zum Pferdemarkt. In der Lingener Bevölkerung begegnete man ihnen mit Mißtrauen. Man sagte ihnen nach, sie würden ihre Pferde aufputschen, indem sie ihnen etwa Pfeffer unter den Schweif rieben – was andere Händler allerdings auch taten. Auf einer Sandbahn konnten die Pferde im Lauf vorgeführt werden. Gelegentlich ließ sich einer der Roma „am Schweif des Pferdes mitschleifen, wodurch das Pferd enorm feurig wurde“, berichtet eine Zeitzeugin. „Einige Zigeuner hatten auch kleine Tanzbären, mit denen sie durch die Straßen zogen und dabei Geld kassierten. Nach der Musik tanzte der Bär hoch erhoben auf den Hinterbeinen um den Zigeuner herum.“ Den Roma war es nicht erlaubt, sich länger als zwei Tage in Lingen aufzuhalten. Nach Ende des Marktes wurden sie von der Polizei aus die Stadt hinaus und bis nach Laxten geleitet.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 3071.
  • Stadtarchiv Lingen, Ev.-Ref. Kirchenarchiv, Nr. 13, Nr. 27.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 20168.
  • Stadtarchiv Lingen, Kultur, Nr. 170.
  • Fings, Karola: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016.
  • Geschichte(n) um den „Alten Pferdemarkt“. Handel und Wandel in Lingen an der Ems, Lingen [1985].
  • Hoffmann, Aloys: Das Medizin-Studium in Lingen 1751, in: Kivelingszeitung 1972, S. 45.
  • Katholische Erwachsenenbildung im Lande Niedersachsen e.V. (Hg.): Aus Niedersachsen nach Auschwitz. Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit. Projektbericht über eine Wanderausstellung des Niedersächsisches Verbandes deutscher Sinti, Hannover 2003/05.
  • Lemmermann, Holger: Zigeuner und Scherenschleifer im Emsland, Sögel 1986.
  • Reinmuth-Neumann, Tilly: Jugenderinnerungen aus längst vergangenen Tagen, in: Kivelingszeitung 1987, S. 129-131.


Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv, Stadtarchiv