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Archivalie – Oktober 2020

Latein & Kunst: Von der Lateinschule zur Kunstschule

Die Lateinschule. Kupferstich von Romeyn de Hooghe (Ausschnitt), um 1697.

Im Bereich des heutigen Universitätsplatzes standen seit Beginn des 17. Jahrhunderts Soldatenbaracken und eine von italienischen Soldaten genutzte Italienische Kirche. Inzwischen baufällig geworden, erwarb die Regierung die Kirche, ließ sie 1678 abreißen und errichtete an ihrer Stelle ein neues Gebäude. Der Magistrat sollte seine seit längerem bestehende Deutsche Schule zu einer Lateinschule aufwerten und hier unterbringen. So entstand ein zweigeschossiges Bauwerk mit großen Fenstern im Erdgeschoss, kleineren im Obergeschoss sowie mit zwei Eingängen. Während der eine zu einem großen Auditorium führte, erreichte man über den anderen die unteren der insgesamt vier Klassenräume. Zwischen den beiden Eingängen wurde eine Inschriftenplatte angebracht, gefertigt von dem Bildhauer Jan Schraeder, die Wilhelm III. von Oranien als Gründer der Schule pries. Die 1616 gegossene Bronzeglocke der Italienischen Kirche setzte man in einen kleinen Dachreiter. Sie diente fortan als Schulglocke. Auf der Rückseite des Gebäudes verwiesen Maueranker auf das Baujahr 1680. Am 22. Januar 1680 wurde das neue Schulgebäude eingeweiht. Da insbesondere Kinder vom Lande zum Schulbesuch animiert werden sollten, wurde 1685 an der Stelle der früheren Soldatenbaracken das heutige Professorenhaus gebaut. Die auswärtigen Schüler fanden dort fortan Unterkunft. Die Anfänge der Lateinschule waren dennoch recht schwierig. Erst als 1697 eine Hohe Schule gegründet wurde, war der Fortbestand der Lateinschule gesichert. Die Hohe Schule war dezentral organisiert. Die Vorlesungen fanden üblicherweise in den Privatwohnungen der Professoren statt. Für Feiern und Disputationen aber nutzte die Hohe Schule das Auditorium der Lateinschule.

Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich die Hohe Schule in einer schweren Krise. Sie wurde schließlich aufgelöst und mit ihren Mitteln die Lateinschule zu einem Gymnasium aufgewertet. Am 19. April 1820 eingeweiht, verblieb das Gymnasium im Gebäude der Lateinschule. Das jedoch wurde bald erheblich umgebaut. Die Geschossdecke wurde gesenkt und die Räume auf beiden Etagen zu Klassenzimmern umgebaut. An die Stelle des Dachreiters trat ein Zwerchgiebel, der die Schulglocke aufnahm. Und die beiden Eingänge wurden durch einen zentralen Eingang ersetzt. Das ursprünglich fünfachsige Haus hatte nun zu beiden Seiten des Eingangs drei Fensterachsen. Mit fünf Lehrern und zunächst nur 15 Schülern nahm das Gymnasium den Betrieb auf. Doch die Zahlen stiegen allmählich auf über 120 Schüler – zu viele für das Gebäude am Schulplatz. 1858 nahm das Gymnasium nach König Georg V. den Namen „Georgianum“ an und zog im darauffolgenden Jahr in ein neu errichtetes Schulgebäude an der Henriette-Flatow-Straße.

Für 2000 Taler erwarb nun die lutherische Gemeinde das Gebäude der ehemaligen Lateinschule. Lutherische und reformierte Schule bildeten zwar bereits seit 1826 eine gemeinsame evangelische Bürgerschule, befanden sich aber noch immer in ihren alten Schulgebäuden. Die lutherischen Schüler zogen nun mit zwei Klassen in die alte Lateinschule, und die Klasse der reformierten Schüler folgte, als ihre Schule am 4. August 1863 abbrannte. Zunehmende Schülerzahlen machten bald eine vierte Klasse erforderlich. Sie wurde 1867 in einer Lehrerwohnung im Gebäude eingerichtet. Eine fünfte und sechste Klasse folgten. Mit dem Ankauf des Wesselschen Wohnhauses 1887 wurde die Bürgerschule schließlich siebenklassig. 1910 verließ sie den Schulplatz und zog in ein neues Gebäude an der Poststraße. Zwischenzeitlich firmierte sie als Dietrich-Eckart-Schule und Postschule und steht heute als Paul-Gerhardt-Schule an der Straße Zum Neuen Hafen. Die alte Lateinschule hingegen wurde nun zu einem Wohnhaus umgebaut. Durch die Öffnung von zwei neuen Fenstern auf der linken Seite erhielt die Vorderfront ein seltsam unsymmetrisches Aussehen.

Mit der Einführung einer einheitlichen Reichsfinanzverwaltung 1919 entstand das Finanzamt für die Kreise Lingen und Meppen. Seinen Sitz hatte es im Bogenhaus in der Marienstraße, doch nutzte man bald auch Räume der alten Lateinschule. Die Finanzkasse und die Stempel- und Erbschaftssteuerstelle waren hier untergebracht. Ab dem 1. Oktober 1921 mietete man mit Ausnahme der Wohnung des Kirchendieners das ganze Gebäude an und zog vom Bogenhaus zum Schulplatz. Aus früherer Zeit befand sich noch immer eine Inschrift über dem Eingang: „Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn solcher ist das Reich Gottes.“ In Zeitungen und Witzblättern sorgte das überregional für Erheiterung. Im Sommer 1928 verpflichtete ein Lingener Bürger ein paar durchziehende Blasmusikanten, einen aktuellen Schlager von Artur Werau zu spielen: „Wenn ich dich seh‘, dann muss ich weinen, wenn ich dich seh‘, wird’s Herz mir schwer!“ – 20 Minuten lang, direkt vor dem Finanzamt... Der große Wirbelsturm ein Jahr zuvor hatte das Haus stark in Mitleidenschaft gezogen. Er hatte einen Teil des Dachbodens abgedeckt, und auf dem Dachboden gelagerte Formulare fand man später in Brögbern wieder. Eine Mauer stürzte in das Büro der Mitarbeiterinnen Roloff und Sauerbrey, die an diesem Tag zufällig dienstfrei hatten. Da sich die alte Lateinschule bald als zu klein erwies, errichtete man eine Nebenstelle in der Marienstraße 10. Das erwies sich im Alltagsgeschäft jedoch bald als sehr unpraktikabel. 1935 zog das Finanzamt vollständig in die Meppener Straße 4. Die Marienstraße 10 wurde ein Jahr später Sitz der NSDAP-Kreisleitung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich die ehemalige Lateinschule im Besitz des Landes Niedersachsen, vertreten durch die Regierung in Osnabrück, und war Sitz des Staatlichen Gesundheitsamtes Lingen. Im Erdgeschoss waren nun – neben einer weiterhin bestehenden Privatwohnung – ein Anmeldezimmer und ein Warteraum eingerichtet, außerdem Büroräume und ein Untersuchungszimmer für Säuglinge. Im Obergeschoss befanden sich ein Röntgenzimmer, ein Labor, Räume des Amtsarztes und der Fürsorgerin sowie weitere Büroräume. 1962 gab es Überlegungen zu einem Neubau des Gesundheitsamtes auf städtischem Grund am Bauhof. Da bei den Verhandlungen mit der Stadt auch ein möglicher Grundstückstausch diskutiert werden könnte, ließ das Land Niedersachsen den Gebäudewert der alten Lateinschule ermitteln. Man kam auf einen reinen Gebäudewert – ohne Grundstück – von 56.700 DM. Die Anfänge des Gebäudes waren damals längst vergessen. Man schätzte sein Alter auf etwa 250 Jahre. Die Verhandlungen verliefen offenbar im Sande. Erst Mitte der 1980er Jahre zog das Gesundheitsamt zum Kreishaus (Am Wall Süd 21).

Die alte Lateinschule wurde nun Sitz des Sozialamtes, und der Schulplatz wurde 1986 in Universitätsplatz umbenannt. 1996 wurde das Gebäude von der Stadt umfassend saniert. Die Fensterfront zeigt heute wieder ein symmetrisches Bild, und der Zwerchgiebel ist verschwunden.

Bereits 1978 wurde von Eltern und Künstlern als „Lingener Malschule“ die Kunstschule ins Leben gerufen, die seit 1983 unter der Trägerschaft des damals neu gegründeten Kunstvereins steht. Nach Abschluss der Umbaumaßnahmen richtetete sich die Kunstschule im Frühjahr 1997 in der alten Lateinschule ein. Zuvor hatte sie ihren Sitz erst in der Hüttenplatzschule, dann im Professorenhaus. Wegen weiterer Sanierungsarbeiten wich die Kunstschule 2019 kurzzeitig auf die Gebrüder-Grimm-Schule aus. Inzwischen ist sie wieder in ihr altes Gebäude zurückgekehrt.

Quellen und Literatur

  • Quellen und Literatur
  • Stadtarchiv Lingen, Adressbücher der Stadt Lingen.
  • Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Sammlung, Nr. 990.
  • Stadtarchiv Lingen, Hoch- und Tiefbau, Nr. 95.
  • Stadtarchiv Lingen, Kulturausschussprotokoll vom 16.4.1986.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Tagespost vom 5.3.1996.
  • Eiynck, Andreas: 300 Jahre „Alte Universität Lingen“ im Spiegel alter Ansichten, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 44 (1998), S. 9-23.
  • Hoffmeyer, L.: Geschichte der Evangelischen Volksschulen des Fürstentums Osnabrück, der Niedergrafschaft Lingen sowie der Städte Meppen und Papenburg, Osnabrück 1925.
  • Köster, Baldur: Lingen. Architektur im Wandel von der Festung zur Bürger- und Universitätsstadt bis zur Industriestadt (bis 1930), Berlin 1988.
  • Kulturamt der Stadt Lingen (Hg.): 1697-1997. 300 Jahre Gründung der Hohen Schule Lingen, Lingen 1997.
  • Schulte, Paul Günter: Die Hohe Schule zu Lingen (1697-1819), in: Ehbrecht, Wilfried (Hg.): Lingen 975-1975. Zur Genese eines Stadtprofils, Lingen (Ems) 1975, S. 145-159.
  • Taubken, Hans: Niederdeutsch, niederländisch, hochdeutsch. Die Geschichte der Schriftsprache in der Stadt und in der ehemaligen Grafschaft Lingen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Niederdeutsche Studien 29), Köln/Wien 1981.
  • Vocks, Benno: Lingen wegweisend. 99 Straßen, Wege und Plätze. Porträts und Geschichte(n), Ahlen 2015.
  • Wagner, Josef: Gymnasium Georgianum zu Lingen. 1680-1930, Lingen 1930.


Artikeldatum: 1. Oktober 2020
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen