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Archivalie – Mai 2020

100 Jahre Stadtbibliothek Lingen

In der Burgstraße 48 (rechts im Bild) wurde die Stadtbücherei 1920 eröffnet.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Lingener Büchereiwesen noch fest in der Hand des konfessionellen Vereinswesens. Das änderte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg. Ende Juni 1919 beschlossen die städtischen Kollegien, eine städtische Volksbücherei zu gründen. Unter der Leitung von Heinrich Mohrmann, Bürgervorsteher und Leiter der evangelischen Volksschule, konstituierte sich nun ein entsprechender Büchereiausschuss, der die Bevölkerung auch gleich zu Bücherspenden aufrief. Die Stadt unterstützte die Gründung mit 5000 Reichsmark. Außerdem wurde das Restguthaben des kürzlich aufgelösten Arbeiter- und Soldatenrates genutzt.

Die Bücherei wurde am Sonntag, dem 2. Mai 1920 eröffnet. Untergebracht war sie in der Gaststätte Tieding (Burgstraße 48). In einem vom Wirtschaftsbetrieb abgetrennten Raum war außerdem ein Lesezimmer mit aktuellen Zeitungen eingerichtet. Auf Nachfrage stellte man klar, dass die Zeitungen auch gelesen werden dürften, ohne ein Getränk zu bestellen. Im Gegenteil seien Speisen und Getränke in der Bücherei verboten. Ein Bibliotheksausweis kostete 3 Mark, ein Tag in der Lesehalle 10 Pfennige. Die Bücherausgabe fand Mittwochs und Sonntags für jeweils einige Stunden statt. Ausgeliehen werden sollte ein Buch für nicht länger als drei Wochen. Die ehrenamtliche Leitung übernahm Rektor Mohrmann, die Bücherausgabe besorgte Frau Julie Gelshorn. Man startete mit wenigen hundert Büchern.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten unterlagen die öffentlichen Büchereien einer strengen Aufsicht. Es kursierten Schwarze Listen mit verbotenen und Weiße Listen mit empfohlenen Werken. Neuanschaffungen mussten fortan durch die Staatliche Beratungsstelle für Volksbüchereiwesen in Hannover genehmigt werden, bereits vorhandene Bücher wurden von der Stelle gesichtet, unliebsame Werke mussten ausgesondert werden. Auf Büchereilehrgängen wurde Rektor Mohrmann entsprechend geschult. Im Oktober 1935 fragte Mohrmann an, ob nicht auch der „kürzlich zu Zuchthausstrafe verurteile Herbert Blank“, Verfasser eines Buches über den nationalistischen Schriftsteller Hermann Löns, zu entfernen sei. Die Beratungsstelle bejahte nach kurzer Überlegung seine Anfrage. Die Bibliothek schrumpfte so von 3600 Exemplaren 1930/31 auf 3400 Exemplare 1933/34. Zu Kriegsbeginn sank der Bestand noch einmal um rund 500. 1943 wurden rund 640 Bücher an die Lazarettbücherei entliehen. Gegen Ende des Krieges ließ sich der Betrieb dann nicht mehr aufrechterhalten.

Nach Kriegsende befand sich die Bücherei in einem erbärmlichen Zustand. Zahlreiche Buchverluste waren zu beklagen, teils durch ausgebombte Leser, teils durch Soldaten, die die Bücher nicht zurückbrachten. Die Hochwasserkatastrophe im Frühjahr 1946 tat ihr Übriges. Die noch vorhandenen rund 2300 Bücher waren stark zerschlissen und stammten großteils noch aus den 20er Jahren. Selbst die Buchkataloge lagen nur noch teilweise vor. Die britische Militärregierung ließ das nationalsozialistische Schriftgut entfernen und bewirkte bereits im August 1945 die provisorische Wiedereröffnung. Mit ihrer Zustimmung wurde im März 1946 mit der Diplombibliothekarin Anne Thole erstmals eine hauptamtliche Leiterin eingestellt. Im August 1949 folgte ihr Wilhelmine Wemker nach. Sie unterzog die Bücherei sogleich einer Generalüberholung. Hunderte Bücher wurden neu gebunden, die Karteien überprüft und ergänzt, und so konnte man im Oktober 1949 neu eröffnen.

In der Burgstraße befand sich die Bücherei längst nicht mehr. Der ständige Platzmangel hatte für zahlreiche Umzüge gesorgt. Sie war zunächst in einen Raum der evangelischen Volksschule gewechselt, 1928 dann in die Marienstraße 12. 1948 zog man in die Clubstraße 1, doch der Raum erwies sich als feucht. Schließlich zog man erneut um, erst in die Bauerntanzstraße, 1957 auf den Marktplatz (Nr. 6), 1960 in die Schlachterstraße. Eine gewisse Kontinuität stellte sich erst ein, als das in städtischem Besitz befindliche Ärztehaus, Elisabethstraße 18, um einen Anbau erweitert wurde, der im April/Mai 1963 mit nunmehr 8700 Bänden bezogen werden konnte. Die Bücherei wurde nun komplett neu ausgestattet. Bald weitete sie sich auch in den Altbau aus. 1986 erfolgte ein letzter Umzug in einen eigens dafür errichteteten Neubau in der Karolinenstraße. In dasselbe Gebäude zogen auch das Stadtarchiv und später das Kulturamt.

Seit den 1950er Jahren erlebte die Bibliothek einen kontinuierlichen Aufschwung. 1956 wurde die Thekenausleihe durch die Freihandausleihe ersetzt, 1973 die Ausleihgebühr abgeschafft. Waren Kinder vom Büchereibesuch zunächst ausgeschlossen, wurden sie nun zunehmend als Zielgruppe erkannt. Bereits 1948 fungierte man auch als Schülerbücherei, für 1954 lässt sich eine eigene Jugendbuchabteilung mit 450 Bänden nachweisen, und 1969 übernahm die Diplombibliothekarin Gisela Schlebbe die Leitung der Kinderbücherei. Nach Wilhelmine Wemker übernahm Maleen Fehrs (1962-1968) die Leitung, dann Elisabeth Lütke Holz (1968-1972). Es folgten Margret Barth und ab 1978 Günter Nagelschmidt. Seit 2015 untersteht die Bücherei Josef Lüken.

1978 wurden erstmals Gesellschaftspiele ins Sortiment aufgenommen, im Jahr darauf Tonkassetten, 1992 schließlich auch Videofilme. Mit der Ansiedlung der Hochschule in Lingen übernahm die Bücherei von 1998 bis zur Eröffnung  des neuen Campus 2012 zusätzlich die Funktion einer Hochschulbibliothek. Mit der Zeit wurden Angebote zur Leseförderung immer wichtiger. Heute stellt die Stadtbibliothek vor Ort insgesamt 73.000 Medien zur Verfügung, darunter Musik-CDs, Hörbücher, DVDs, Konsolenspiele und Tonies. Weitere 140.000 Medien sind online ausleihbar. Tonkassetten und Videos gibt es übrigens längst nicht mehr.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 2361.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
  • Stadtarchiv Lingen, Kultur, Nr. 174, Nr. 176.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingensches Wochenblatt und Lingener Volksbote 1919-1920.
  • Vehring, Karl-Heinz: Lingen. Zentrum einer Region. Strukturwandel und Modernisierung, Düsseldorf 2013.


Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 2990), Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr.714